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Kritik an Erdoğan

Er hat schon recht! (Auch wenn die Türkei am Abgrund steht)

Kommentar
Kritik an Erdoğan
Anti-Erdoğan-Demo in Berlin anlässlich des Staatsbesuchs des türkischen Präsidenten Ende September.

Der Staatsbesuch des türkischen Präsidenten verlief wie erwartet – und genauso erwartbar fiel die Kritik daran aus. Viel Mehrwert bleibt da nicht. Höchste Zeit, die Welt aus der Sicht von Recep Tayyip Erdoğan und seiner Wähler in den Blick zu nehmen.

Viele Entwicklungen in der Türkei laufen nicht optimal. Wer es dramatischer braucht: Es geht der Türkei derzeit ziemlich schlecht. Die meisten bekannten Sachverhalte entsprechen den Tatsachen, sind hausgemacht, und müssen daher hier nicht noch mal detailliert wiederholt werden. Die Opposition ist existent aber marginalisiert. Die Presse und Medien sind längst nicht mehr, die sie mal waren. Die Währung liegt am Boden und die außenpolitischen Freunde sind Gegner und Feinde geworden. Ganz zu schweigen von den zahllosen unschuldig Inhaftierten. So gesehen und gelesen, alles bekannt und schlimm genug. Aber wer je eine Ehekrise durchgestanden hat, wird wissen, dass es auf den ein- und denselben Sachverhalt, über Abläufe oder Absprachen merkwürdig unterschiedliche Perspektiven, Bewertungen und Betrachtungen gibt. Das Bild der Ehekrise soll hier nicht überstrapazieren werden, bleiben wir bei den merkwürdig unterschiedlichen Perspektiven. Um die Entwicklung in der Türkei zu verstehen, soll hier mal ein sehr skurriles Szenario inszeniert werden.

 

Was, wenn NSU-Ableger im Erzgebirge an der Grenze zu Tschechien und Polen einen Guerillakrieg anzetteln und mit Kalaschnikows, Minen und Panzerfäusten hunderte deutscher Grenzsoldaten töten? Wenn dazu noch PEGIDA-Anhänger und AfD-Sympathisanten eigene Zeitungen und Fernsehsender besitzen, in denen sie mit übler Hetze zum Umsturz der Bundesrepublik und der verfassungsrechtlichen Ordnung aufrufen? Und manche von diesen Sympathisanten sitzen zu allem Übel im Bundestag oder sind Parteivorsitzende.

 

Man stelle sich zudem vor, dass in der polnischen Stadt Wroclaw der »Katholische Staat« (KS) ausgerufen und die Inquisition eingeführt wird. Woraufhin das polnische Militär gemeinsam mit US-Streitkräften Wroclaw bombardiert und drei Millionen Polen über die Grenze nach Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern in die Flucht treibt. Die Bundeskanzlerin fordert Schutz- und Flugverbotszonen in West-Polen, aber die Türkei kümmert das wenig. Bis die polnischen Flüchtlinge über das Schwarze Meer in die Türkei kommen. Zehntausende ertrinken bei dem Versuch. An türkischen Badeorten liegen die ertrunkenen Flüchtlinge. Ein dreckiger Deal, der die Polen in Deutschland hält, ist die Folge.

 

In dem Gewirr fordert plötzlich eine Splittergruppe der PEGIDA ein emanzipatorisch-demokratisches Preußen. Sie verbündet sich mit den Böhmen und Sorben und bekämpfen tapfer die katholische Terrorgruppe »Opus Dei«, die zahllose Selbstmordanschläge in Dresden, Berlin und Köln verübt.

 

Und als wenn dieses Szenario noch nicht absurd genug wäre, kommt ein ehemaliger Stasi-Strippenzieher-Priester dazu, der in Sankt-Petersburg sitzt und in mehr als 20 Jahre im öffentlichen Dienst in Deutschland ein mächtiges Netzwerk aufgebaut hat. Dazu gehören neben Generälen und Offizieren, Richter und Anwälte, Polizisten und Beamte, Professoren, Journalisten, Unternehmer, Kardinäle und Pastoren sowie ein weltweites Netzwerk mit enormen finanziellen Mitteln.

 

Eine Gruppe Generäle in diesem Netzwerk beschließt nun den Umsturz der Bundesregierung. F16-Kampfjets bombardieren den Bundestag und Leopard-2-Kampfpanzer sperren das Brandenburger Tor ab. Eine Militärdiktatur in Deutschland kann gerade noch abgewendet werden, weil Menschen auf die Straße gehen und »Wir sind das Volk« skandieren. In diesem Augenblick ermahnt die türkische Regierung die mit knapper Not davongekommen deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, rechtsstaatliche Prinzipien bei der Verfolgung der Putschisten zu achten. Ein absolut irrsinniges Szenario, in der Tat, aber in der Türkei hat es – unter anderen Vorzeichen und weit obskureren Ereignissen – stattgefunden.

 

Jede politische oder religiöse Gruppe hatte eine eigene Zeitung oder Fernsehsender, wo rund um die Uhr die Regierung – mit oder ohne Erdoğan – verflucht wurde

 

Bleiben wir bei der Realität. Der türkische Staatspräsident Erdoğan hat schon recht, wenn er anführt, dass in der Türkei die Pressefreiheit und Meinungsfreiheit in einigen Fällen dazu genutzt wurde, um Propaganda und Hetze zu betreiben. Anders als in Deutschland gab es in der Türkei ziemlich lange zu der Pressefreiheit vor allem Pressevielfalt. Jede politische oder religiöse Gruppe hatte eine eigene Zeitung oder Fernsehsender, wo rund um die Uhr die Regierung – mit oder ohne Erdoğan – verflucht wurde. Der Ton war zeitweise derart heftig, dass diese Artikel auch in Deutschland vom Presserat gerügt oder in krasseren Fällen von der Staatsanwaltschaft Anklage wegen Beleidigung oder Volksverhetzung erhoben worden wäre. Denn wo Hetze beginnt, hört Presse- und Meinungsfreiheit eben auf.

 

Er hat schon recht, wenn er darauf hinweist, dass Can Dündar, ähnlich wie Deniz Yücel, Staatsgeheimnisse verraten habe. Das stellt in der Türkei einen Straftatbestand dar. Das muss man nicht mögen, ist aber erstmal geltendes Recht in der Türkei. Ein ähnliches Recht respektive Unrecht trifft übrigens auch andere Whistleblower wie zum Beispiel Edward Snowden, der in Deutschland kein Asyl bekommen hat, weil er vermutlich an die US-Justiz ausgeliefert werden müsste.

 

Er hatte schon recht, wenn er darauf hinweisen würde, dass durch die Unterstützung der Freien Syrischen Armee, die in den Anfangstagen von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen wurde und anschließend nicht immer deutlich vom IS oder anderen Terrorgruppen unterschieden werden konnte, nicht annähernd nicht so viele Opfer zu beklagen waren, wie die russischen, iranischen oder syrischen Truppen Zivilisten auf dem Gewissen haben. Absurderweise werden übrigens nicht nur kurdische Peschmerga mit Zustimmung der Bundesregierung bewaffnet und ausgebildet, sondern auch die türkische Armee, unser Nato-Partner.

 

Kein Staat der Welt – egal unter welcher Führung – kann und darf es dulden, dass auf seinem Staatsgebiet Gruppen mit Kalaschnikows und Panzerfäusten Grenzsoldaten töten

 

Er hat schon recht, wenn er behauptet, dass der Einmarsch in Afrin dazu dient, eine Schutzzone für syrische Araber zu schaffen, nachdem das syrische Militär gemeinsam mit Revolutionsgarden aus Iran und russischen Spezialeinheiten die Zivilisten in die Flucht gebombt und Rebellen niedergekämpft haben. Neben Idlib ist nun die Region um Afrin das letzte Rückzugsgebiet für die syrisch-arabischen Rebellen oder wahlweise auch Terroristen. Es ist aber schon eine sehr schrille Argumentationsweise, den völkerrechtswidrigen und deswegen illegalen Einmarsch in Afrin zu kritisieren und gleichzeitig nie ein Wort über die jahrzehntelange Besatzung und Annektierung der syrischen Golan-Hohen durch die israelische Armee verloren zu haben.

 

Er hat schon recht, wenn er behauptet, dass eine Gruppe von Fethullah-Gülen-Anhängern im Militär einen Putschversuch unternommen hat und das Nato-Mitglied im Zweifel zur Militärdiktatur umgebaut hätte. Diese Gruppe war in der Türkei im öffentlichen Dienst weitverzweigt und die tausenden Gerichtsverfahren zur Ermittlung von Schuld und Unschuld brauchen Zeit. Denn auch in der Türkei mahlen die Mühlen der Justiz sehr langsam. Manche Paragrafen sind zwar höchst fragwürdig, aber zunächst mal geltendes türkisches Recht. Verantwortlich für dieses Recht sind die Abgeordneten im Parlament, die vom Volk gewählt wurden. So dysfunktional ist leider manchmal die Demokratie.

 

Er hat schon recht, wenn er feststellt, dass die PKK einen Guerilla-Krieg gegen das türkische Militär führt und mit kurdisch-syrischen oder bei Bedarf auch kurdisch-irakischen Rebellen kooperiert. Es ist absurd anzunehmen, dass sie es nicht tun würde. Kein Staat der Welt – egal unter welcher Führung – kann und darf es dulden, dass auf seinem Staatsgebiet Gruppen mit Kalaschnikows und Panzerfäusten Grenzsoldaten töten. Es gehört zu der vornehmsten Aufgabe eines Staates, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten und die nationalstaatlichen Grenzen zu schützen. Deswegen werden Abgeordnete, Journalisten und Aktivisten, die Terrorgruppen unterstützen, so behandelt, als würden sie Terrorgruppen unterstützen.

 

Er hat schon recht, dass Türken in Deutschland ausgegrenzt werden und acht von ihnen von einer nationalsozialistischen Untergrund-Terrorgruppe abgeknallt wurden

 

Er hat schon recht, dass Türken in Deutschland ausgegrenzt werden und acht von ihnen von einer nationalsozialistischen Untergrund-Terrorgruppe abgeknallt wurden. Diese Mordserie wird nicht dadurch besser, dass der deutsche Verfassungsschutz den NSU mitfinanziert hat. Und längst nicht alles, wie von Kanzlerin Merkel verspochen, wurde schonungslos aufgeklärt. Im Gegenteil – vieles wurde vertuscht, Akten geschreddert. Das der ehemalige BKA-Beamte Andreas Temme sogar dabei war, als Halit Yozgat in seinem Internetcafé abgeknallt wurde und er nicht gezwungen wird, sich zu erinnern, wie es war, am niedergeschossenen Türken vorbeizugehen, ist auch kein Indiz für schonungslose Aufklärungsbereitschaft. Mal ganz abgesehen von der täglichen Hetze der AfD und der strukturellen Diskriminierung, denen Türken in Deutschland ausgesetzt sind.

 

Er hat schon recht, dass vielen Deutschen Integration fordern und Assimilation meinen. Es ist kaum einzusehen und migrationssoziologisch totaler Unsinn, Deutsch-Türken zum Bekenntnis zwischen Deutschland oder der Türkei zu zwingen. Stattdessen dürfen sich diese zur Bekenntnis gezwungenen Deutsch-Türken die ausländerfeindliche Propaganda des deutschen Innenministers Horst Seehofer anhören und wundern sich, warum er angesichts seiner Hetze noch immer im Amt ist. Sollen sich die Deutsch-Türken wirklich mit diesem Heimatminister identifizieren? Und dass Mesut Özil, der sich nie politisch geäußert hat und ohnehin Probleme, hat einen vernünftigen Satz zu formulieren, nach jahrelangen Topleistungen in der deutschen Nationalmannschaft wegen einem Foto in die Ecke gestellt wurde, ist alles, nur nicht fair.

 

Die Gedankenwelt des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ist nicht nur für ihn selber konsistent und stringent, sondern vor allem auch für scheinbar viele Deutsch-Türken in Deutschland. Ihre Haltung, Position und Meinung kommt im öffentlich-gesellschaftlichen Diskurs nicht zum Ausdruck, und wenn, dann nur als verirrte Seelen. Erdoğan gibt ihnen scheinbar eine Stimme, eine Wertschätzung und spricht diese Wahrheiten für sie aus. Auch wenn es für all diese Wahrheiten auch eine angemessene Kritik und Antwort gibt, gehören diese aufgezählten Tatsachen eben auch zur Wahrheit. Vielleicht nur zur Wahrheit der Türken. Aber es ist eben nicht ehrlich, diese Wahrheiten außer Acht zu lassen.

 

Nicht Erdoğan persönlich ist also schuld an dieser Entwicklung, sondern ein dysfunktionales System, dass die Erdoğans dieser Welt möglich macht

 

Seien wir also ehrlich: Der türkische Präsident ist kein Engel und wird es in diesem Leben auch nicht mehr werden. Er führte die Türkei in ungeahnte Höhen und nun an den Rand des Abgrunds. Und damit wird er auch weitermachen. Aber er stellt keine Ausnahme dar, denn er ist ein Machtpolitiker seiner Zeit. Er reiht sich ein unter die politischen Schwergewichte dieser Generation. Er gehört ebenso dazu wie Xi Jinping in China, Wladimir Putin in Russland, Benyamin Netanyahu in Israel, vor einiger Zeit gehörte auch Silvio Berlusconi in Italien dazu und wurde nun von Donald Trump in den USA ersetzt.

 

Sie alle nutzten die Doppelmoral, die Korruption und Verlogenheit der »Polit-Elite«, um diese zu diskreditieren und sich selber an die Macht zu spülen. Angekommen an der Macht, haben sie durch Themensetzung und Diskreditierung des politischen Gegners den gesellschaftlich-medial geführten Diskurs bestimmt, kontrolliert und populistisch bedient. Mit semi-demokratischen Mitteln wurden in den folgenden Jahren sämtliche Hebel der Macht genutzt, um eben diese Macht zu festigen und Wahlen zu gewinnen. Auf Basis einer scheinbar stabilen Wirtschaft, äußeren Feinden und eigener nationaler Stärke werden die Medien, die Opposition und die Gesellschaft eingeordnet und auf Kurs gebracht. So funktioniert nun mal Machtpolitik im 21. Jahrhundert.

 

Schuld an dieser Entwicklung sind vor allem die Wähler, die sich von diesen skrupellosen Machpolitikern blenden und täuschen ließen und sie gewählt haben. Nicht Erdoğan persönlich ist also schuld an dieser Entwicklung, sondern ein dysfunktionales System, das die Erdoğans dieser Welt möglich macht. Und wir sollten in Deutschland aufpassen, dass wir in einiger Zeit nicht ähnliche Rückzugsgefechte führen, wie sie derzeit die Türkei erlebt.

Von: 
Özgür Uludag

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