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Kurz Erklärt: Abiy Ahmed und die Kämpfe in Äthiopien

Das steht in Äthiopien auf dem Spiel

Analyse
Verhältnis zwischen Äthiopien und Eritrea
Ein sowjetischer Panzer, zurückgelassen von äthiopischen Truppen, die sich 1991 aus Eritrea zurückzogen. David Stanley / lizensiert nach Creative Commons Attribution 2.0 Generic

Ob der vermeintliche Stabilitätsanker am Horn von Afrika in eine Art Bürgerkrieg abzurutschen droht, welche Rolle Friedensnobelpreisträger Abyi Ahmed spielt – und welche Szenarien Äthiopien nun bevorstehen.

Am 10. Dezember 2019 nahm Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed in Oslo den Friedensnobelpreis entgegen. Die Welt, Afrika und vor allem Äthiopien feierte den jungen, charismatischen Anführer, der es gewagt hatte, mit Eritrea Frieden zu schließen.

 

Kein Jahr später, am 17. November 2020 zeigt sich das Nobel-Komitee »tief betroffen« über die Situation in Äthiopien und ruft alle Parteien dazu auf »Meinungsverschiedenheiten und Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen«. Die Schlagzeilenmacher westlicher Medien texten mit staunendem Gruseln vom Friedensnobelpreisträger, der in den Krieg zieht.

 

Was ist geschehen?

In der Nacht, in der die Welt gebannt auf die USA-Karte mit roten und blauen Staaten blickt und dem Ausgang der Präsidentschaftswahl entgegenfiebert, beordert Abiy Ahmed, einst selbst äthiopischer Offizier mit Kriegserfahrung die äthiopischen Streitkräfte nach Tigray, »um ihre Mission zu erfüllen das Land und die Region davor zu bewahren, in Instabilität abzudriften«.

 

Nachdem seine Regierung viel Geduld aufgebracht habe, sei nun »die letzte rote Linie« überschritten worden: Einheiten der in Tigray regierenden »Volksbefreiungsfront von Tigray« (TPLF) hätten das Armeehauptquartier im Norden überfallen.

 

Das Wort Krieg fällt schon in der ersten Erklärung aus dem Büro des Ministerpräsidenten, auch wenn man den Einsatz als »Maßnahme der Rechtsdurchsetzung« gegen die die TPLF gesehen haben will. Inzwischen geht der Konflikt in die vierte Woche. Armeeeinheiten rücken in Tigray vor, unterstützt von der Luftwaffe und Spezialkräften, vor allem aus Amhara. Größe Städte wie Humera, Adua, Axum und Adigrat sind bereits eingenommen.

 

Mekelle, die Hauptstadt des Bundeslandes Tigray und Sitz der TPLF, soll bereits eingekesselt sein – ein Panzerangriff ist angekündigt. Auf die Partnerstadt von Witten, die rund eine halbe Million Einwohner zählt, wurden bereits mehrere Luftangriffe geflogen, bei denen es auch zivile Opfer gegeben haben soll.

 

Sie ist nicht nur das Machtzentrum Tigrays, sondern auch Sitz des Armeestützpunkts, an dem das ganze Drama begann – im Umland sollen Raketen stationiert sein. Von hier aus und anderen Raketenstellungen im Land wurden bereits Geschosse in Richtung des benachbarten Bundeslands Amhara abgefeuert – aber auch auf Eritreas Hauptstadt Asmara.

 

Die TPLF behauptet, dass sich Abiy Ahmed und Eritreas Präsident Isayas Afewerki verbündet hätten und eritreische Truppen Äthiopiens Kampf gegen Tigray unterstützen würden. Abiy Ahmed hat der TPLF erneut ein dreitägiges Ultimatum gestellt – diesmal zur Aufgabe Mekelles. Tigrays Verwaltungschef Debretsion Gebremichael, einst bei den Wahlen der Gegenkandidat von Abiy Ahmed, danach aber zunächst ein Mitstreiter des Ministerpräsidenten, schmettert das Angebot ab und entgegnet: »Wir sind bereit, zu sterben«.

 

Obwohl Debretsion Gebremichael gerade erst im Amt bestätigt wurde, betrachtet Abiy Ahmed ihn nicht mehr als legitimen Machthaber vor Ort. Schon kurz nach dem Beginn des Waffengang und der Erklärung eines Ausnahmezustandes für das Bundesland setzte die Zentralregierung in Addis Abeba eine Interimsverwaltung (inklusive Chef) ein.

 

Im Sudan, der im Nordwesten an Tigray angrenzt, bahnt sich laut des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR eine »umfassende humanitäre Krise« an. Am 17. November zählt die UN-Agentur über 27.000 Geflüchtete – jeden Tag kommen 4.000 hinzu. Insgesamt rechnet die UN derzeit mit 200.000 Geflüchteten.

 

NGOs fordern einen Waffenstillstand sowie einen humanitären Korridor, um Nahrung und Medikamente zu Einwohnern und Geflüchteten zu bringen. Die EU und auch Deutschland fordern von allen Konfliktparteien eine politische Lösung des Konflikts – also Verhandlungen. Die Afrikanische Union hat inzwischen drei Ex-Staatsführer als Unterhändler benannt.

 

Addis Abeba lehnt hingegen zum wiederholten Mal jegliche Verhandlungen ab. Der frühere Koalitionspartner TPLF sei inzwischen eine »terroristische Junta«, mit der nicht zu verhandeln ist. Nur ein militärischer Sieg komme als Abschluss der »Strafverfolgungsmaßnahmen« in Frage – 96 Haftbefehle gegen hohe TPLF-Funktionäre und 32 Generäle sind bereits ausgestellt. Die Konten von mehreren großen TPLF-nahen Firmen sind eingefroren. Ebenso ist Tigray-weit das Internet und das Mobilfunknetz abgeschaltet.

 

Dies macht es auch enorm schwer, Informationen aus dem Teilstaat zu erhalten oder zu überprüfen. Aussagen der einen Konfliktpartei steht oft sofort das Dementi der anderen gegenüber. Mangels Berichterstattung direkt vor Ort bleibt selbst großen Nachrichtenagenturen nichts anderes übrig, als die Kriegsparteien zu zitieren.

 

Doch selbst das stößt auf Missfallen: Zwar wurde schnell dementiert, dass der umtriebigen Reuters-Journalistin Giulia Paravicini die Lizenz entzogen wurde – wenige Tage später wurde dann William Davison, der Experte der International Crisis Group (ICG) des Landes verwiesen. Die Regierung selbst hat einen Faktencheck-Kanal in den sozialen Medien eingerichtet – der ist aber eben alles andere als unabhängig.

 

In Äthiopien selbst geht es aber im Moment nicht so sehr um Wahrheit, sondern um Loyalität. Gefolgschaft für die Regierung und deren vorgegebene Meinung – keine Neuheit in Äthiopiens politischer Kultur.

 

Die Hintergründe des abscheulichen Massakers zu Beginn des Konflikts in der Nähe der Stadt Humera konnten bis heute nicht zu hundert Prozent geklärt werden. Amnesty International (AI) konnte zwar das Blutbad bestätigen, musste jedoch selbst Augenzeugen zitieren, um anzudeuten, dass die Morde möglicherweise seitens Truppen aus Tigray verübt worden seien.

 

Ein anderer in den Sudan geflüchteter Augenzeuge, der von Reuters zitiert wurde, gab an, dass äthiopische Milizen die Morde verübt hätten. Augenzeugen wiederum stützten gegenüber CNN die Beobachtungen der AI-Zeugen.

 

Die Äthiopische Menschenrechtkommission hat inzwischen ihren Vorab-Untersuchungsbericht vorgelegt – der geht von tigrayschen Jugendbanden als Tätern aus. Die Aufklärung der Gräueltat, bei der 600 Menschen grausam zu Tode gekommen sein sollen, wird Äthiopien und die internationale Gemeinschaft noch länger beschäftigen.

 

Worum geht es eigentlich?

Ob die Hintergründe für die momentane Eskalation eindeutig benannt werden können, ist fraglich. Viele oberflächliche Beobachter halten die in Tigray Anfang Oktober abgehaltenen Wahlen für den Auslöser der Krise, andere auch die ethnischen Differenzen im Land. Beides sind aber lediglich Einzelstücke eines extrem kniffligen Puzzles – quasi »Addis bei Nacht« in 3.000 Teilen.

 

Die Regierung Abiy Ahmed sagte Ende März die für dieses Jahr wegen des Ende der Legislaturperiode geplanten Wahlen ab – Begründung: die Corona-Pandemie. Obwohl die äthiopische Verfassung diesen Fall nicht vorsieht, hielt die TPLF an den Wahlvorbereitungen fest und rief trotz der Drohungen aus Addis Abeba das Volk Anfang Oktober an die Urnen.

 

Die Bestätigung der TPLF-Regionalregierung mit 98 Prozent (keine andere Partei ist im Regionalparlament vertreten) lässt zwar Zweifel an der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb aufkommen, war aber ein PR-Coup für die Volksbefreiungsfront von Tigray, die in ihrer Geschichte noch nie als besonders demokratiefreundlich aufgefallen war. Aber ein Kriegsgrund? Im Wahlkampf hatte sich die TPLF klar gegen eine Sezession ausgesprochen.

 

Die TPLF hatte das Land über 27 Jahre lang in der Koalition »Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker« (EPRDF) zusammen mit drei anderen Parteien regiert, die alle einem Bundesland und damit quasi einer Volksgruppe zuzuordnen waren: den Oromo, den Amharen und den sogenannten »südlichen Nationen«.

 

Obwohl die Tigray nur etwa 6-7 Prozent der Bevölkerung ausmachen, war die TPLF der mächtigste Partner dieser Koalition. Sie war zusammen mit der »Eritreischen Volksbefreiungsfront« (EPLF) die treibende Kraft, um Äthiopien Anfang der 1990er-Jahre aus den Fängen des Derg-Regimes zu befreien.

 

Spätestens im Zuge der Hinterzimmerverhandlungen des EPRDF-Exekutivkomitees, die Abiy durch eine Koalition der Oromo- mit den Amhara-Vertretern den Weg ins Ministerpräsidentenamt gesichert hatten, begann die Spaltung. Im Dezember 2019 fusionierten die EPRDF-Mitgliedsparteien mit den bisher quasi irrelevanten Regierungsparteien der anderen fünf Bundesstaaten (und der zweier Stadtstaaten) zur Ethnien übergreifenden »Wohlstandspartei« unter Führung von Abiy Ahmed – einzig die TPLF beteiligte sich nicht an der Neugründung.

 

Doch eigentlich hatte der Kitt schon mit dem Tod des omnipräsenten Staatslenkers Meles Zenawi 2012 zu bröckeln begonnen. Nach ihm hat kein Politiker das von ihm ersonnene System aus revolutionär-demokratischen Fronten und ethnisch strukturierten Föderalstaaten mehr richtig zu steuern gewusst.

 

Im Gegenteil: Für viele Beobachter ist gerade der von Meles Zenawi in die neue Verfassung eingepflanzte ethnische Föderalismus der Keim, aus dem die heute aufbrechenden Konflikte zwischen den vielen Völkern Äthiopiens entspringen. Und es ist tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, dass eine Maßnahme, die eigentlich dazu gedacht war, zumindest den großen Volksgruppen mehr Mitbestimmung in Addis Abeba zu verschaffen, zu mehr Lagerdenken als möglicherweise jemals zuvor führte.

 

So fand man zum Beispiel als Amhare im benachbarten Bundesstaaten Oromia oft keine Anstellung – und umgekehrt. Abiys Wahl zum Ministerpräsidenten als erster Vertreter der Volksgruppe der Oromo wurde auch hier als Hoffnungsschimmer gesehen. In Grenzregionen wurde in Dörfern auf verschiedenen Seiten der innerstaatlichen Grenzen kleine Wiedervereinigungen gefeiert.

 

Die Hoffnung währte nicht lang: Fast überall im Land flammten immer wieder kleinere oder größere gewalttätige und oft tödliche Konflikte auf, die Äthiopien 2019 mit etwa 3,5 Millionen Binnengeflüchteten an die Spitze dieser unrühmlichen Statistik führen: Oromo gegen Amhara, Amhara gegen Oromo, kleinere Volksgruppen des Südens gegeneinander, Muslime gegen Christen, Militärs gegen Zivilisten, Demonstranten gegen die Polizei.

 

Dabei beteiligt: Rebellengruppen (darunter Abspaltungen der Oromo-Befreiungsfront, OLF), regionale Polizeieinheiten, Milizen, die regionalen Armeen, die in jedem Bundesland von der Zentrale abgekoppelt ihr Eigenleben führen und immer weiter hochgerüstet werden. All diese Strukturen sind in den aktuellen Konflikt involviert und vermutlich in den einen oder anderen Übergriff verwickelt, den die verantwortlichen Generäle und ihre politischen Führer gerne vermeiden würden.

 

Mit einem für Äthiopien völlig neuen Führungsstil hatte Abiy Ahmed zu Beginn seiner Amtszeit nicht auf eine Politik der harten Hand gesetzt. Sein Schlagwort hieß »Medemer« – zu Deutsch in etwa »Synergie« oder »Harmonie«. Rührend, aber vielleicht naiv. Er ließ Kämpfer der Oromo-Befreiungsfront aus Eritrea zurück ins Land – ohne durch harte Verhandlungen für eine Entwaffnung zu sorgen.

 

Er entließ politische Gefangene und regimekritische Journalisten aus dem Knast, schloss Foltergefängnisse und lud die über den Erdball verstreute Diaspora ein, nach Hause zu kommen und das neue Äthiopien mit aufzubauen – ganz egal, wie feindselig sie dem Projekt Abiy Ahmed vielleicht gegenüberstanden.

 

Manch eine der oben genannten Gruppen oder auch andere Einwohner des Landes scheinen diese offenen Arme als Schwäche und als Einladung zur gewaltsamen Durchsetzung ihrer Interessen gesehen zu haben. Spätestens mit der zweiten größeren Welle von »ethnischen Säuberungen« nach dem Tod des Sängers Hachalu Hundesa Ende Juni dieses Jahres war klar: Abiy Ahmed wird seinen Stil ändern müssen.

 

Das Problem: Die oromische Jugendbewegung »Qeerroo«, die Abiy Ahmeds Aufstieg mit ihren Protesten seit 2015 erst möglich gemacht hatte, beschimpfte ihren Ministerpräsidenten inzwischen als »Naftegna«, zu Deutsch in etwa »Gewehrträger« – ein Schimpfwort für die Amharen, das aus der Zeit stammt, als Kaiser Menelik (1844-1913) große Teile Oromos eroberte und dem Kaiserreich zuschlug.

 

Die Amharen hingegen fühlten sich von Abiy Ahmed allein gelassen, als vor allem im Bundesstaat Oromia im Oktober 2019 und im Juli 2020 hauptsächlich Mitglieder ihres Volkes verfolgt und getötet wurden.

 

Zunächst ließ die Regierung wieder tausende Menschen verhaften, darunter auch Pressevertreter wie den prominenten Journalisten Eskinder Nega und vor allem den zum Politiker gewandelten Medienprofi Jawar Mohammed. Der nimmt für sich in Anspruch, die »Qeerroo« gesteuert und Abiy Ahmed ins Amt verholfen zu haben.

 

Letztendlich hatte jedoch das Bündnis von Amharen und Oromo den Premier an die Macht gebracht – über die Vertreter der beiden größten äthiopischen Volksgruppen im EPRDF-Exekutivkomitee, aber auch über Druck auf der Straße. Ein Weiterregieren ist für Abiy Ahmed auch nur dann möglich, wenn er einen Großteil dieser beiden Blöcke wieder hinter sich vereint weiß.

 

Zumal im künstlich geschaffenen Bundesstaat der südlichen Völker immer weitere kleinere Staaten zu entstehen scheinen – so ist die Sidama-Zone seit einer Volksabstimmung im November 2019 wieder eine autonome Region innerhalb der Bundesrepublik Äthiopien.

 

Dass sich die TPLF nie von der eigenen Geschichte losgesagt hatte, erweist sich nun als fataler Fehler. Zumal die Tigray-Befreiungsfront darüber hinaus kaum eine Gelegenheit ausließ, um deutlich zu machen, dass man bei der Erneuerung der Regierungskoalition EPRDF in dieser Form nicht dabei sein wolle.

 

Alter Parteiname, alte Köpfe – aus Sicht ihrer Gegner ist die TPLF die ideale Projektionsfläche für all das, was in den vergangenen 30 Jahren in Äthiopien schief gelaufen ist: ethnische Unterdrückung, politische Gefangene, totale Überwachung und Folter, Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaat, private Bereicherung, um nur ein paar Dinge zu nennen. Die TPLF ist an keiner dieser Entgleisungen unschuldig, handelte aber auch eben nicht allein.

 

Nun muss sie den totalen Schurken abgeben. Aus dem einstigen Koalitionspartner ist innerhalb von zwei Jahren eine »Terror-Junta« geworden, mit der man nicht mehr verhandeln kann und will.

 

Und so wird ihr landläufig auch zugetraut, hinter jedem einzelnen der Übergriffe und Angriffe, Anschläge und Treibjagden zu stecken. Selbst wenn sich zum Beispiel eine Untergruppe der OLF dazu bekannte, hieß es: Die sei von der TPLF gekauft, Geld und Waffen haben die TPLF-Granden – nationale und internationale Verbindungen auch.

 

War die TLFP wirklich so leichtsinnig, den Armeestützpunkt im Norden anzugreifen und damit den Grund für einen Einmarsch zu liefern? Das bestätigt zumindest ein CNN-Interview mit einem TPLF-Offiziellen aus Tigray. Die äthiopischen Streitkräfte scheinen sich jedoch schon vorher massiv in Stellung gebracht zu haben.

 

Wie geht es nun weiter?

Noch ist die äthiopische Armee auf dem Vormarsch – täglich werden Eroberungen vermeldet. Angeblich werden die eroberten Städte von den Streitkräften schnell hinter sich gelassen. Die Zivilbevölkerung solle unter dem Krieg so wenig wie möglich leiden, das betont Abiy Ahmed immer wieder. Gegner sei die TPLF und nicht das Volk der Tigray.

 

Ob die nachrückenden regionalen Sonderkräfte auch Guerilla-Angriffen standhalten können? Sind mit diesen weniger gut ausgebildeten Einheiten Übergriffe auf die Zivilbevölkerung wahrscheinlicher geworden? Wie lassen sich die langen Nachschubwege unter diesen Umständen sichern? Wie hoch ist die Kampfkraft der tigrayschen Miliz und der übergelaufenen Armeeeinheiten? Wie viele und welche Waffen hat die TPLF und welche Taktik verfolgen ihre Generäle?

 

Das können wohl nur Militärexperten und Insider einschätzen, wird aber bestimmen, wie lange diese Auseinandersetzung andauert. Abiy Ahmed hat eine schnelle Operation versprochen, an deren Ende die TPLF abgesetzt ist und hat dafür viele seiner Landsleute (wieder) hinter sich geschart. Ob das westlichen Beobachtern passt oder nicht.

 

Allerdings ist das nur mit der Einnahme der Tigray-Hauptstadt Mekelle möglich. Je länger diese Operation jedoch andauert, desto größer wird der Druck aus dem Ausland auf den Ministerpräsidenten – auch weil sich die Berichte über getötete Zivilisten und Geflüchtete häufen werden.

 

Finanziell ist Äthiopien auf das Wohlwollen der internationalen Gemeinschaft, vor allem auf die Weltbank und die USA angewiesen – weniger zimperliche Freunde aus China, Russland oder dem arabischen Raum könnten Ausfälle nicht kompensieren. Sollte der Ministerpräsident jedoch in Verhandlungen einsteigen, ohne seine Mission erfüllt zu haben, wird er schnell wieder Unterstützung im eigenen Land verlieren.

 

Doch selbst wenn Mekelle schnell fällt und die TPLF entmachtet wird, steht der Region womöglich ein langwieriger Guerilla-Krieg bevor. Abiy Ahmed kann auch nicht darauf bauen, dass das Ende der TPLF-Herrschaft in der tigrayischen Bevölkerung unbedingt als Befreiung empfunden wird.

 

Es ist auch nicht zu erwarten, dass die ganzen selbst ernannten Befreiungsbewegungen in Äthiopien, allen voran in Oromia, aber auch im Rest des Landes, freiwillig die Waffen strecken werden. Erst recht nicht, wenn sich die Auseinandersetzung in Tigray verlängert und Einheiten aus ihren Gebieten abgezogen werden müssen.

 

Ebenso ist nicht damit zu rechnen, dass die in den letzten Jahren aufgerissenen Wunden zwischen äthiopischen Christen und äthiopischen Muslimen schneller heilen, wenn das Land in der Krise feststeckt. Kann Abiy durch seinen Waffengang zumindest Teile der in Oromo mächtigen Bewegung »Qeerroo« wieder für sich gewinnen? Wenn nicht, ist die nächste Konfrontation mit Amhara nur eine Frage der Zeit.

 

Ein Äthiopien, in dem die beiden großen Bundesstaaten auf Dauer nicht mehr miteinander können, ist dem Tode geweiht. Ein Jugoslawien am Horn von Afrika wäre die unweigerliche Folge – nur blutiger und von höherer geopolitischer Bedeutung.

 

Alles, was weltweit Rang und Namen hat, ist hier inzwischen vor Ort: Es geht um Handelsrouten, Ressourcen und Einflussräume. Kurz: um Geld und Macht. Äthiopien galt in den letzten Jahrzehnten als Stabilitätsanker – als Leuchtturm im Krieg gegen der Terror, der in den umliegenden Ländern geschlagen wurde, genoss das Regime, von der TPLF angeführt, breite Unterstützung.

 

Auch wenn man die damalige Regierung für vieles ähnlich wie Eritrea hätte kritisieren müssen. Dieser Status ist gleichsam Bürde wie Chance: Fällt Äthiopien, werden alle mitmischen – vielleicht ist Äthiopien aber auch »too big to fail«.

 

Sollte Äthiopien einigermaßen glimpflich und geeint aus diesem Waffengang gegen die TPLF herauskommen, muss Abiy Ahmed so schnell wie möglich wählen lassen – auch wenn Corona und die Sicherheitslage einen Urnengang erheblich erschweren. Dann könnte der Premier unter Beweis stellen, dass es ihm wirklich um Frieden und Demokratie für Äthiopien geht – und nicht um eine Rückkehr zur Diktatur, wie es ihm seine Gegner unterstellen.

 

Der nächste Schritt müsste dann eine verfassungsgebende Versammlung sein, die es schafft, das Verhältnis von Bundesstaaten und Zentralregierung neu auszutarieren, die Vielfalt fördert, ohne ethnische Identität zu überwerten, und die sich für Subsidiarität und lokale Mitbestimmung entscheidet.

 

Sollte Abiy Ahmed nicht gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen, ständige Brandherde aufflammen oder in Teilen des Landes sogar eine Art Bürgerkrieg herrschen, dann wird Äthiopien, wenn überhaupt, nur durch eine Übergangsregierung unter Einbeziehung aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte, aller Religionen und Völker zu retten sein.

 

Ansonsten geht eine Geschichte zu Ende, die der Legende nach mit der Königin Saba und König Solomon begann. Schuld daran würde nicht Abiy Ahmed haben. Nicht einmal die TPLF. Sondern viele sichtbare und unsichtbare Menschen, mit Macht und Geld oder ohne, in Äthiopien und im Ausland, die nicht mehr genug daran glauben wollten, dass es eine Nation Äthiopien geben soll. Die nicht mehr genug Vertrauen hatten – in sich selbst und die anderen. Die nicht mehr mit aller Leidenschaft sagen konnten: Ich bin Äthiopier.


Alexander Bestle ist Presse-Referent des Deutsch-Äthiopischen Vereins und beobachtet das Geschehen in Äthiopien seit Anfang 2018 tagtäglich. Er ist seit über zehn Jahren in der kommunalen Entwicklungszusammenarbeit aktiv und fördert vor allem Unternehmertum. Geäußerte Meinungen und Einschätzungen gegeben nicht die offizielle Position des Deutsch-Äthiopischen Vereins wieder.

Von: 
Alexander Bestle

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