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Massenproteste in Indonesien

Sie demonstrieren nicht nur gegen die »Sex-Paragraphen«

Analyse
Massenproteste in Indonesien
Studenten gehen wie hier in der Hauptstadt Jakarta seit September auf die Straße. JahlilMA / Wikimedia Commons

Indonesien erlebt die größte Protestwelle seit dem Sturz des Suharto-Regimes 1998. Dabei geht es vor allen um die Unabhängigkeit einer der wichtigsten Institutionen des südostasiatischen Landes.

Dass es in diesem Herbst zu solch massiven Protesten ausgerechnet vor Beginn der zweiten Amtszeit des im April wiedergewählten Präsidenten Joko »Jokowi« Widodo, eines weithin als liberal geltenden Hoffnungsträgers, gekommen ist, mag auf den ersten Blick erstaunen. Immerhin gehen die Demonstrationen diesmal nicht von Islamisten und Parteigängern des ehemaligen Generals und unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Prabowo Subianto aus, Jokowis bisherigen Gegnern.

 

Nicht nur Jokowi steht vor der größten Krise seiner Regierungszeit. Es geht vielmehr um einen generellen Vertrauensverlust in das politische System und seine Repräsentanten.

 

Die ungelösten Probleme des Landes spitzen sich zu. Da sind die verheerenden Waldbrände auf Sumatra und Borneo. Brandrodung wird kaum strafrechtlich verfolgt – zu lukrativ sind die für neue Palmölplantagen freiwerdenden Flächen, zu mächtig die Konzerne mit engen Beziehungen in Regierungskreise.
In der Provinz Papua kommt es seit Wochen zu gewalttätigen Ausschreitungen, bisher kamen über 30 Menschen, vornehmlich Zugewanderte, ums Leben; Journalisten bleibt der Zugang zur Provinz verwehrt.

 

Die Antikorruptionsbehörde genießt quer durch alle ideologischen Lager großes Vertrauen

 

Dass Jokowi die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt, zeigte sich bereits in seiner ersten Amtsperiode. Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen aus der Suharto-Zeit stockt. Sogenannte »Scharia-Verordnungen« werden lokal weiter erlassen, und zu den Blasphemie-Vorwürfen und der Verurteilung des chinesischstämmigen, christlichen Politikers Basuki »Ahok« Tjahjadi Purnama schwieg Jokowi ebenso wie zu Hetzpredigten und Übergriffen gegen LGBT und andere Minderheiten, die durch den konservativ-religiösen Rechtsruck der Gesellschaft zunehmend unter Druck geraten.

 

Doch gegen all das regte sich wenig gesellschaftlicher Widerstand, auch im studentischen Milieu, in dem konservative und islamistische Gruppierungen großen Einfluss ausüben. Dass sich nun Studenten unterschiedlichster Ausrichtung in einer gemeinsamen Protestbewegung formieren, liegt vor allem an der Einsetzung eines neuen, umstrittenen Chefs der Antikorruptionsbehörde KPK und ihrer geplanten Umstrukturierung. Die KPK genießt bei der Bevölkerung quer durch alle ideologischen Lager außerordentlich großes Vertrauen, sie hat in den letzten Jahren hochrangige Politiker hinter Gitter gebracht.

 

Viele Indonesier befürchten eine gezielte Entmachtung der unabhängigen »Super-Institution« KPK durch das Parlament. Die Neufassung des KPK-Gesetzes schränkt die Befugnisse der Behörde zum Teil drastisch ein – und schützt damit korrupte Oligarchen und Politiker.

 

Zeitgleich wurde ein Entwurf zur Aktualisierung des Strafgesetzbuches bekannt. Studenten und Menschenrechtsorganisationen schlagen Alarm, sie warnen vor erheblichen Einschränkungen bürgerlicher Rechte sowie vor weiteren repressiven »Gummi-Paragraphen«, die in den Händen der Machthaber jederzeit gegen unliebsame Personen und gesellschaftliche Minderheiten eingesetzt werden können.

 

Denunziantentum und moralische Selbstjustiz könnten weiter um sich greifen

 

So soll unter anderem »Beleidigung« des Präsidenten und Parlaments als Straftat gelten, der umstrittene Blasphemie-Paragraph wurde weiter ausgeweitet. Außerehelicher Sex als Antragsdelikt ist nach Klage durch Ehepartner, Eltern oder Kinder zu ahnden, Aufklärung über Verhütungsmittel und deren Verkauf an Minderjährige sind untersagt, Abtreibung kaum noch legal möglich, und Propagierung von marxistischen Ideen unter Strafe gestellt. Obdachlose sehen sich kriminalisiert, und nicht nur das Verbot von »obszönem Verhalten« lässt befürchten, dass Denunziantentum und moralische Selbstjustiz weiter um sich greifen werden.

 

Viele internationale Medien stürzten sich geradezu reflexhaft auf die Sex-Paragraphen, von einem »Bali Sex Ban« war gar die Rede, und damit schien sofort klar, um was es mal wieder geht: auf der einen Seite böse Scharia-Gesetze, auf der anderen Seite Protest der guten Liberalen und Moderaten.

 

Doch die Sex-Paragraphen stehen nicht für alle Demonstranten im Vordergrund. Den Studenten geht es um viel mehr. Neben der Schwächung der KPK und dem problematischen Strafgesetzbuch verweisen sie auf weitere umstrittene Gesetzentwürfe, die Bürgerrechte einschränken, Polizei und Militär stärken und der Ausbeutung natürlicher Ressourcen ungeachtet ökologischer Folgen weiter Vorschub leisten. Gefordert wird zudem konsequente strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen.

 

Bizarre Propagandaschlacht in den sozialen Medien

 

Nicht alle, die an den Protesten teilnehmen, mögen mit jeder der Forderungen einverstanden sein, vereint sind sie aber in ihrem Unmut über die sich selbst bereichernden und ihre Privilegien weiter ausbauenden Parlamentarier, von denen sie sich nicht vertreten fühlen. Der Vertrauensverlust in Politiker und Parteien ist immens. Dass es hier nicht mehr um »Islamisten« versus »Säkulare« geht, zeigt unter anderem die bizarre Propagandaschlacht in den sozialen Medien, für viele Indonesier die wichtigste Informationsquelle. Politische Influencer, in Indonesien »Buzzer« genannt, fluten die sozialen Medien mit einseitiger Berichterstattung und täglich neuen fake news.

 

So beschwören Pro-Jokowi-Buzzer das Schreckgespenst eines drohenden Kalifats: Die KPK sei von sogenannten »Taliban« unterwandert und bedürfe deshalb einer Aufsicht, die Demonstrationen seien Teil eines groß angelegten Plans der Islamisten, um Jokowi zu stürzen. Islamisten versuchen zwar in der Tat, die Proteste der Studenten für ihren eigenen Kampf gegen die Regierung zu nutzen, bisher allerdings mit wenig Erfolg. Die Gefahr der gezielten Unterwanderung der bislang eher diffusen Graswurzel-Bewegung durch gewaltbereite, teils bezahlte Provokateure ist nicht von der Hand zu weisen, wie die Ausschreitungen vor allem in Jakarta zeigen. Doch in Städten wie der Studentenhochburg Yogyakarta blieben die Proteste bisher friedlich.

 

Am 20. Oktober steht die Vereidigung Jokowis zu seiner zweiten Amtszeit an. Eine offene, rationale politische Debatte zu den Forderungen der Studenten fand bisher nicht statt – wer Jokowi kritisiert, gilt im polarisierten Freund-Feind-Denken allzu schnell als jemand, der ihn stürzen will. Oder die Proteste werden als »peinlich« abgetan, so etwa von Yasonna Laoly, dem bisherigen Minister für Justiz und Menschenrechte, in einer Talkshow: Die Studenten hätten nicht verstanden, worum es bei den Gesetzentwürfen in Wirklichkeit gehe.

Von: 
Bettina David

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