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Politische Entwicklungen in Libyen seit 2011

Ein Land kommt nicht zur Ruhe

Analyse
Ein Land im Würgegriff
Bürgerproteste in Tripolis im Dezember 2011. Seitdem versuchen Bürgerinitiativen erfolglos, die bewaffneten Gruppen aus der Stadt zu vertreiben. Foto: Mirco Keilberth

2011 begann eine neue Ära in Libyen – mit vielen Hoffnungen und noch mehr Rückschlägen. Ein Überblick über die wichtigsten Entwicklungen in den acht Jahren seit dem Sturz Gaddafis bis zur Schlacht um Tripolis.

Acht Jahre sind vergangen, seitdem Muammar Al-Gaddafi nach heftigen, Monate anhaltenden militärischen Auseinandersetzungen in Sirte ein unrühmliches Ende fand. Am 20. Oktober 2019 jährte sich sein Todestag zum achten Mal – ein Jahrestag, der überschattet wird von der Schlacht um die Hauptstadt Tripolis.

 

Allen Widrigkeiten zum Trotz hat Libyen seit Gaddafis Sturz eine enorme Entwicklung durchgemacht. Denn man muss sich vor Augen führen, was Libyen 42 Jahre zuvor gewesen war und was danach kam: Ein Land, in dem politische Gruppierungen verboten waren und Identität und Ideologie von oben vorgeschrieben, hat sich zu einer Nation mit einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher Initiativen, mehreren politischen Parteien und lokalen politischen Strukturen entwickelt, die es teilweise trotz schwierigster Bedingungen schaffen, Staatsaufgaben zumindest auf lokaler Ebene wahrzunehmen.

 

Dem libyschen Volk waren seit 2011 nur wenige Verschnaufpausen vergönnt – die letzten acht Jahre waren geprägt von der Selbstfindung einer Nation, der Herausarbeitung von politischen Strukturen, der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und tagespolitischen Rivalitäten, sowie ständigen militärischen Auseinandersetzungen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.

 

Im Jahr 2019 verlangt Libyen seinen Einwohnern ein hohes Maß an Resilienz ab. Damit einher geht die Befürchtung, dass viele Libyer ihre Zukunft außerhalb Libyens planen, sollten sich die Lebensbedingungen nicht verbessern – keine einfache Entscheidung, schließlich waren 2011 die Hoffnungen für eine bessere Zukunft in einem befreiten Libyen groß. Auch aus diesem Grund ist ein Blick zurück unerlässlich, um zu verstehen, wo Libyen heute steht und wie sich das Land in Zukunft entwickelt: Was löste die Proteste von 2011 aus, wie unterscheidet sich Libyen von anderen Ländern des Arabischen Frühlings und welche Wegmarken prägten die bisherigen Etappen dieses Weges?

 

Die gewaltsame Revolution von 2011: Der Arabische Frühling in Libyen

 

Das inspirierende Momentum der Proteste und der darin geäußerten Forderungen nach politischer Freiheit und einem würdevollen Leben in Tunesien und Ägypten ist wenig umstritten. Genauso liegt es auch auf der Hand, dass Libyens Bürger ganz eigene Gründe hatten, um 2011 auf die Straße zu gehen. Das idiosynkratische politische System der Jamahiriyya (was sich in etwa als »Herrschaft der Massen« übersetzen lässt), vom selbsternannten »Bruder- Führer« Muammar Al-Gaddafi in seinem »Grünen Buch« ideologisch untermauert und ausgeführt, entwickelte sich in der Praxis von fast vier Dekaden Herrschaft zu einem totalitären System, in dem alle Sphären des gesellschaftlichen Zusammenlebens letztlich unfrei waren.

 

Gleichzeitig war dieses totalitäre System nicht verknüpft mit gefestigten staatlichen Strukturen. Stattdessen regierte Gaddafi einem Prinzip folgend, dass viele Libyer »kontrollierte Anarchie« nennen: Es fußte auf wechselnden Verbündeten und ausgewählten Konstanten (meist Familienmitgliedern und/oder Stammesmitgliedern), und war gekennzeichnet vom mangelnden Vertrauen in Institutionen. Vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten der Herrschaft Gaddafis und nach einer Reihe gescheiterter Putschversuche verlor die Armee an Einfluss und Bedeutung. In diese Zeit fallen auch die sprunghaften Adaptionen der Staatsideologie – je nach Zeitgeist und Laune Gaddafis. Das System der Jamahiriyya hinterließ seine Spuren auch nach dem Sturz des Herrschers. Gaddafi hatte willentlich darauf hingearbeitet, sein politisches System an seine Person zu knüpfen.

 

Öffentlich geäußerter Unmut über Gaddafis Herrschaft trat in Libyen erstmals im Februar 2011 in Benghazi zutage, als Demonstranten sich vor einer Polizeistation einfanden und die Korruption im Land anprangerten. Die Proteste breiteten sich rasch aus. In Reaktion auf die brutale Niederschlagung der Demonstrationen durch Regimekräfte schlug der Protest um: in eine bewaffnete Revolution, die schließlich militärisch von der NATO aus der Luft unterstützt wurde. Nach dem Sturz Gaddafis stand Libyen vor einer enormen Herausforderung: Wie sollte es weitergehen in einem Land mit einer marginalen politischen Kultur der Selbstbestimmung? Auf welche Grundlagen könnten die neuen Kräfte einen tragfähigen Staat stellen?

 

Die frühe Phase nach Gaddafi: Der schwierige Übergang von Diktatur zur Demokratie Die Mammut-Aufgabe bestand also darin, ein totalitäres System, zugeschnitten auf einen Herrscher, in eine plurale Demokratie umzuwandeln. Die Libyer, die am Sturz des Gaddafi-Regimes 2011 beteiligt waren, waren sich der Tragweite dieses Unterfangens bewusst. Bereits in den frühen Tagen der Demonstrationen hatte sich der »Nationale Übergangsrat« gebildet. Eine Institution, die proaktiv nicht nur im Land danach strebte, der Revolution ein Gesicht und Struktur zu geben, sondern auch international auf Stimmenfang ging, um das Bekenntnis der Libyer zu Demokratie und einer Zukunft ohne Gaddafi zu bekräftigen.

 

Die Intervention auf Seiten der revolutionären Milizen konnte der »Nationale Übergangsrat« als einer der ersten Erfolge verbuchen. Zudem legte das Gremium die Grundlagen für einen Übergang zur Demokratie in Libyen, als es für das Jahr 2012 Wahlen ausrief. Der »Nationale Übergangsrat« setzte sich ein Ultimatum und verpflichtete sich zur Selbstauflösung, sobald eine parlamentarische Vertretung gewählt sein würde. Dieser »Nationalkongress« sollte primär mit der Aufgabe des Übergangs in die Demokratie befasst sein.

 

Auf der Grundlage einer Verfassung sollten dann die festgeschriebenen Institutionen konstituiert werden. Die Wahl des »Nationalkongresses « 2012 fand unter schwierigen Umständen statt: Libyen fehlte eine öffentliche Debattenkultur, in der frei über politische Themen berichtet und diskutiert werden konnte. Jahrzehntelang hatte es keine politischen Parteien gegeben, da Gruppen und Vereine, die potenziell eine politische Agenda und somit Opposition zum Gaddafi-Regime hätten entwickeln könnten, verboten waren. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene fehlte eine Auseinandersetzung mit Identität und Ideologie.

 

Die zentrale Frage der Beziehung von Religion und Politik war für viele Libyer beispielsweise einerseits selbstverständlich – als integraler Bestandteil der libyschen Gesellschaft sollte der Islam und somit muslimische Werte auch eine Rolle in der Politik spielen – zugleich blieb unklar, wie dieses Verhältnis in der Praxis ausgestaltet werden sollte. Die Gesellschaften in der MENA-Region müssen regelmäßig mit der Thematik auseinandersetzen, um sich dann auf einen mehrheitsfähigen Ansatz zu einigen, der solange verfolgt wird, bis neue gesellschaftliche Entwicklungen diesen Ansatz wieder hinterfragen. Allerdings ist die Frage der Beziehung von Religion und Politik für eine Gesellschaft, die sich gerade aus einem totalitären System befreit hatte, besonders herausfordernd.

 

Zusätzlich stellte die Organisation demokratischer Wahlen viele Libyer vor individuelle Herausforderungen (neben den großen gesellschaftlichen Debatten). Bis heute teilen Libyer Anekdoten von den ersten Wahlen 2012: von Wahlhelfern, die erzählen, dass sie von einzelnen Wählern in die Wahlkabine gerufen wurden, um zu beraten, wen man denn wählen solle und wie. In Familien wurde erstmals am Esstisch diskutiert, für wen man abstimmen solle. Dabei ging es oft um Stammesloyalitäten, persönliche Beziehungen zu Kandidaten, aber auch um die Parteiprofile mancher Bewerber. Kurz gesagt, Wahlen abzuhalten in einem Land, in dem es keine etablierten politischen Gruppierungen gab und die Bürger seit Jahrzehnten an keinen fairen und freien Wahlen teilgenommen hatten, war ein riskantes Unterfangen.

 

Nichtsdestotrotz konnte Libyen in Sommer 2012 stolz auf ein Parlament verweisen, das aus demokratischen Wahlen hervorgegangen war. Das Land sah sich auf dem richtigen Weg, hin zu einem inklusiven politischen System. Doch die Revolution wurde die Dämonen nie los, die der gewaltsame Charakter des Umsturzes heraufbeschworen hatte. Ein Wendepunkt war in dieser Hinsicht die Ermordung des US-Botschafters Christopher Stevens nach einem Angriff auf das Konsulat im September 2012. Der Fall stellte die Schlagkraft islamistischer Milizen zur Schau, ebenso aber die Ohnmacht der gewählten politischen Vertreter. Diese Unfähigkeit, Ordnung und Sicherheit garantieren zu können, plagt Libyen bis heute. In der Folge mischten sich Milizen jeglicher Couleur immer ungenierter in die politischen Strukturen des post-revolutionären Libyens ein.

 

Libyen drei Jahre nach der Revolution: Von politischer Auseinandersetzung zum Bürgerkrieg

 

Das fehlende Gewaltmonopol und damit einhergehend die Stärkung der Milizen wurden den Libyern bereits wenige Jahre nach dem Sturz Gaddafis zum Verhängnis. Der »Nationalkongress« war 2012 auf Kompromissfindung angewiesen, da er die Grundlagen für die künftige politische Entwicklung des Landes erarbeiten sollte. Während das Gremium anfänglich zusammenarbeitete und Uneinigkeiten an der Tagesordnung waren, aber zumindest nicht eskalierten, trugen drei Faktoren dazu bei, das Libyen dennoch Schritt für Schritt in den Bürgerkrieg schlitterte. Erstens, die Vorgänge rund um das sogenannte Politische Isolationsgesetz, zweitens die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Waffen in Libyen – ein Erbe des gewalttätigen Charakters der Revolution 2011 – und drittens die Ambitionen von General Khalifa Haftar.

 

Die genaue Version der Ereignisse und auch die Schuldfrage bleiben bis heute umstritten. Fest steht, dass die erbitterten Rangeleien um das Politische Isolationsgesetz zum Zerfall der gewählten Institutionen führten. Milizen stürmten im Frühjahr 2014 das Parlamentsgebäude, um eine Abstimmung herbeizuführen. Grob zusammengefasst entsprach der Gesetzesvorstoß dem irakischen Modell der De-Baathifizierung. Er zielte darauf ab, frühere Stützen des Gaddafi-Regimes von zukünftiger politischer Beteiligung auszuschließen.

 

Allerdings entwickelte sich das Gesetz schnell zu einem politischen Spielball, etwa in der Auseinandersetzung rivalisierender Politiker. Ein Grund dafür war die sehr vage Definition dessen, was »regimetreu« eigentlich bedeutet und wer unter der neuen Regelung von politischer Teilhabe ausgeschlossen werden sollte. Dieser Streit offenbarte zudem das tiefsitzende Misstrauen mancher Libyer zu ihren Mitbürgern – ein Erbe der Gaddafi-Herrschaft.

 

Der Diktator hatte eine Günstlingswirtschaft kultiviert, um Misstrauen zu säen und verschiedene Teile der Bevölkerung gegeneinander auszuspielen. Darüber hinaus stellte das politische Gezänk die limitierte Bereitschaft der sich herausbildenden Elite bloß, Macht zu teilen oder womöglich den gerade gewonnenen Einfluss wieder einzubüßen.

 

Zweitens spürt Libyen bis heute die Folgen des Krieges gegen das Gaddafi-Regime: Seit 2011 fließen Waffen und Munition in das Land, zudem erbeuteten die Rebellen damals viele Waffen aus den Arsenalen des Regimes. In den jährlichen Erhebungen der Schweizer NGO »Small Arms Survey« steht Libyen seit Jahren weit oben, wenn es um den Waffenbesitz pro Kopf geht.

 

Drittens prägen die Ambitionen des Generals Khalifa Haftar Libyens post-revolutionäre Ära. Der 76-jährige General war Teil der Gruppe von Militärs, die Muammar Al-Gaddafi 1969 an die Macht gebracht hatte. Allerdings geriet er mit dem Herrscher über die Jahre aneinander und fand Exil in den USA, wo er bis 2011 lebte. An die Rückkehr 2011, kurz vor Beginn der Nato-Intervention, hatte er Ambitionen geknüpft, nicht nur einer von vielen Milizenführern zu sein, sondern die Revolution anzuführen und nach Gaddafis Sturz dessen Platz einzunehmen. Doch diese Gelegenheit verpuffte schnell und seine Milizen spielten zunächst keine wichtige Rolle im post-revolutionären Libyen.

 

Das änderte sich mit dem Aufflammen des libyschen Bürgerkriegs 2014, als Haftar sich und seine Miliz »Libysche Nationalarmee« (LNA) als Vorkämpfer gegen islamistische Terroristen stilisierte und damit regional und auch teilweise international Gehör fand. In Libyen selbst wuchs die Frustration über den »Nationalkongress«, der nicht in der Lage war, für stabile Verhältnisse zu sorgen. Das politische Patt spielte Haftar in die Hände: Einen Monat nach Beginn der Offensive des Generals auf Benghazi konstituierte sich nach Wahlen mit gerade einmal 18 Prozent Wahlbeteiligung die erste Kammer des libyschen Parlaments, der Abgeordnetenrat, der den Nationalkongress ersetzen sollte.

 

Doch unter anderem, weil der Nationalkongress nicht bereit war, seine Macht so schnell abzugeben, eskalierte die Lage in einen Bürgerkrieg, bei dem sich zwei rivalisierende Parlamente mit jeweils verbündeten Milizen gegenüberstanden und so das Land spalteten: Im Westen, in Tripolis, der »Nationalkongress« an der Seite des Milizenbündnisses »Morgendämmerung Libyen«. Im Osten, in Tobruk, der Abgeordnetenrat unter der Schutzherrschaft von Haftars Allianz, die er »Operation Würde« taufte. Mit der offiziellen Anbindung seiner LNA an das Exil-Parlament von Tobruk sicherte sich der General politischen Einfluss über die weitere politische Entwicklung Libyens.

 

Der IS in Libyen: Dschihadisten nutzen das Sicherheitsvakuum und setzen sich in Libyen fest

 

Der Zerfall Libyens in divergierende Machtzentren bot dem »Islamischen Staat« (IS) die Gelegenheit, sich in Libyen einzurichten. Nach einer anfänglichen Präsenz in Derna im Osten zog sich der IS 2015 aus der Stadt zurück, hauptsächlich aufgrund der militärischen Konfrontation mit anderen dschihadistischen Gruppen, die stärker in Derna verwurzelt waren und somit die Oberhand gewannen.

 

Der IS wich nach Sirte aus, die Heimatstadt Gaddafis. Dessen Einwohner, insbesondere in Reihen des einflussreichen Werfalla-Stammes, hatten unter dem Regime Privilegien genossen und fühlten sich von der post-revolutionären Ordnung strukturell ausgeschlossen. Auf lokaler Ebene ging der IS so zunächst Kooperationen ein, wechselte dann allerdings schnell in den gewohnten Modus: eine Gewaltherrschaft, die keinerlei Widerspruch tolerierte.

 

Der IS rief das »Wilayat Tarabulus« aus und unternahm immer öfter Vorstöße in Richtung der nahegelegenen Ölfelder bei Sirte – und rief so die USA und Großbritannien wieder auf den Plan. Neben militärischer Unterstützung für die libysche Anti-IS Koalition sicherten mehrere westliche Staaten auch diplomatisches Unterstützung für eine politische Lösung für Libyen zu. In der Folge wurde im Dezember 2015 im marokkanischen Skhirat ein Abkommen unterzeichnet, aus dem eine »Regierung der Nationalen Einheit« hervorging.

 

Der gemeinsame Kampf gegen den IS sollte das Momentum liefern, um die politische Spaltung der Parlamente von Tobruk und Tripolis zu überwinden. Eines der Haupthindernisse: General Khalifa Haftar, der die »Regierung der Nationalen Einheit« bis heute nicht anerkennt. Zumindest gelang es im Dezember 2016, den IS aus Sirte zu vertreiben – zu dem Preis, einen Großteil der Stadt in Schutt und Asche zu legen.

 

Libyen heute: Ein gespaltenes Land, das die Ideale der Revolution nicht aufgeben will

 

Zurzeit ist die »Regierung der Nationalen Einheit« unter der Führung von Premierminister Fayez Al-Serraj mit Sitz in Tripolis die einzige von den Vereinten Nationen anerkannte Volksvertretung in Libyen. Sie leidet aber weiterhin unter einem Legitimationsdefizit. Ihr Einflussbereich ist auf den Westen des Landes beschränkt und selbst dort hängt ihre Macht hauptsächlich von verbündeten Milizen ab. Diese bewaffneten Gruppen sind nominell der Regierung gegenüber loyal, de facto operieren sie aber auf eigene Rechnung und üben eher Einfluss auf die Regierung aus als umgekehrt.

 

Zudem sind viele dieser Milizen von kriminellen Netzwerkstrukturen durchsetzt. Die mittel- bis langfristigen Ziele des Abkommens von Skhirat – territoriale Integrität unter einer Einheitsregierung, die die politische und ökonomische Situation sowie die Sicherheit im Lande stabilisiert und somit die Grundlage für ein inklusiveres Libyen schafft – wurden schon wenige Monate nach der Unterzeichnung untergraben.

 

Nach dem Ausscheren von Khalifa Haftar, der mit seiner LNA weite Teile im Osten des Landes beherrscht, waren diese Ziele ernüchternd schnell in weite Ferne gerückt. Haftar war allerdings nicht der Einzige, der das Abkommen kritisch sah: Teile der politischen und militärischen Kräfte des Landes waren in dem Verhandlungsprozess nicht ausreichend eingebunden und ließen sich im Nachhinein nicht überzeugen, gemäß der getroffenen Absprachen zu handeln. Heute ist Libyen zwischen rivalisierenden Administrationen im Osten (Tobruk) und Westen (Tripolis) des Landes geteilt. Zudem regieren einflussreiche Milizen und Stämme in Teilen Libyens relativ autonom.

 

Ghassan Salamé, Leiter der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (UNSMIL), plante für Mitte April 2019 einen neuen Anlauf, alle Akteure an einen Tisch zu bringen, um ein Ende der scheinbar endlosen Übergangsphase und Teilung einzuleiten und »institutionelle und politische Normalität« im Land einkehren zu lassen. Diese Konferenz sollte auch einige Repräsentanten der libyschen Zivilgesellschaft versammeln. Stämme der Region Fezzan im Süden und Bürgermeister einflussreicher Städte wie Zintan oder Misrata hatten die Initiative begrüßt, da sie auf einen inklusiveren Prozess hofften als in den vorangegangen Verhandlungsrunden in Paris und Palermo.

 

Doch der Wiederbelebung des politischen Prozesses setzte Haftar ein Ende, als er am 4. April seine LNA in Richtung Tripolis in Bewegung setzte – nur wenige Tage vor dem geplanten Tagungsbeginn in Ghadames am 14. April. Mit dem Start einer bewaffneten Offensive in Westlibyen stellte Haftar seinen Anspruch zur Schau, über ganz Libyen zu herrschen und sich dabei nicht (allein) von internationalen Konferenzen abhängig zumachen. Zuvor hatte er sich Anfang 2019 im Fezzan militärisch durchgesetzt – somit war der westliche Teil Libyens mit ökonomischen Schwergewichten wie Misrata und der Hauptstadt Tripolis das letzte Puzzlestück.

 

Allerdings unterscheidet sich der westliche Teil Libyens deutlich vom östlichen und südlichen Teil. Die Militäroffensive im Süden des Landes ist qualitativ Lichtjahre entfernt, von dem, was Haftar in Tripolis erwartete. Haftar hatte die schnelle Mobilisierung und teilweise Fraternisierung zwischen Milizen aus Tripolis und Misrata zu einer Gegenoffensive unterschätzt. Auf der einen Seite wollten die herrschenden Milizen in Westlibyen ihre Einflusssphären verteidigen, zugleich sind viele Libyer trotz der Unruhen der vergangenen Jahre seit dem Sturz Gaddafis unter keinen Umständen bereit, wieder unter einem autokratischen Herrscher zu leben – und bereit, alles dafür in die Waagschale zu werfen.

 

Haftar erfährt vor allem von Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten militärische Unterstützung, die ihm als Partner im Kampf gegen (den Muslimbrüdern nahestehende) Islamisten Vertrauen schenken und durch einen stetigen Waffenzufluss sowie Einsätze der Luftwaffe direkt in den Machtkampf in Libyen eingreifen. Aber auch die Gegenseite bekommt militärische Unterstützung aus dem Ausland, vor allem der Türkei. Die UN hat diese Verstöße gegen das Waffenembargo mehrfach offengelegt, Konsequenzen lassen bis heute auf sich warten. Libyen entwickelt sich mehr und mehr zu einem internationalen Schlachtfeld – inzwischen kämpfen wohl auch Söldner aus dem Sudan sowie von der russischen Wagner-Gruppe in Libyen.

 

Im September 2019 verkündete Oliver Owcza, Deutschlands Botschafter in Libyen, dass die Bundesrepublik unter der Schirmherrschaft der UN einen dreistufigen Prozess initiieren würde, dessen Hauptaugenmerk anfänglich darauf liegen soll, externe Interventionen in Libyen zu stoppen. Darauf aufbauend gehe es darum, in Libyen einen Kompromiss zu finden, der in einen Frieden münden soll – vor dem Hintergrund der Lage im Land im Herbst 2019 eine Herkulesaufgabe.

Von: 
Inga Kristina Trauthig

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