Nach dem Wagner-Aufstand steht Russlands Milizen-Netzwerk auf dem Prüfstand. Ramzan Kadyrow hat gute Chancen, die Krise für sich zu nutzen – zumindest solange der Status Quo in Tschetschenien hält.
Ramzan Kadyrow, der von Putin eingesetzte Präsident der nordkaukasischen Republik Tschetschenien, gilt als einer der treusten Vasallen im russischen Staatsapparat und demonstriert diese Loyalität immer wieder öffentlichkeitswirksam. Der Aufstand der Wagner-Gruppe und Jewgenij Prigoschins Marsch nach Moskau haben den Kontrast in punkto Linientreue stärker denn je verdeutlicht. Putin kann sich auf Kadyrows öffentliche Unterstützung verlassen, gerade auch vor dem Hintergrund ausbleibender militärischer Erfolge in der Ukraine.
Dabei erfüllen – beziehungsweise erfüllten – Kadyrow und Prigoschin bis zum 24. Juni 2023 ähnliche Aufgaben. Beide befehligen eine Privatarmee, Prigoschin die Gruppe Wagner, Kadyrow die »Akhmat«-Truppe, die zum militärischen Großverband der »Kadyrowzy« zählt. Beide Privatarmeen haben zum 1. Juli 2023 das Angebot erhalten, per Vertrag mit dem Verteidigungsministerium in die offiziellen Strukturen des russischen Militärs eingegliedert zu werden. Allerdings kam nur Kadyrow diesem Angebot nach.
Wie auch im Falle Prigoschins richtete sich die Kritik des tschetschenischen Statthalters vor allem an Russlands Armeeführung und insbesondere Sergej Schoigu. Putin wiederum belohnt Kadyrow für dessen öffentliche Loyalitätsbekundungen, indem er ihn zum Beispiel im März 2022 zunächst zum Generalleutnant der russischen Streitkräfte und im Oktober schließlich zum Generaloberst beförderte.
In Syrien und im ersten russischen Krieg gegen die Ukraine ab 2014 standen sich auf beiden Seiten Tschetschenen gegenüber
Nun aber löste sich diese gemeinsame in eine gegnerische Front auf: Wagner-Chef Prigoschin hat sich nicht nur gegen die militärische Führung unter Leitung Schoigus gestellt, sondern auch Russlands Krieg in der Ukraine und die in Russland offiziell geltende Begründung einer Demilitarisierung und Denazifizierung der Ukraine beinahe beiläufig als Vorwand entlarvt. Kadyrow auf der anderen Seite nahm diese Entwicklungen zum Anlass, seine Loyalität zu Putin erneut auf Telegram zu demonstrieren und seine eigenen Truppen zur Verteidigung der »Einheit Russlands« in die von Wagner-Söldnern umkämpften Gebiete zu schicken.
Ein weiterer, für die russische Führung wesentlicher, Unterschied zwischen Kadyrow und Prigoschin: Den innertschetschenischen Konflikt zwischen pro-russischen und separatistischen Kräften konnte der Kreml nur durch drastische Maßnahmen einigermaßen unter Kontrolle bringen. Allerdings hat sich die Auseinandersetzung auf internationale Konflikte ausgeweitet, in denen Russland als Kriegspartei auftritt. So standen sich in Syrien und im ersten russischen Krieg gegen die Ukraine ab 2014 auf beiden Seiten Tschetschenen gegenüber.
Diese innertschetschenische Konfrontation scheint aber mit dem seit Februar 2022 andauernden Krieg Russland gegen die Ukraine auch den Raum der internationalen Diplomatie erreicht zu haben: Ende 2022 erkannte das ukrainische Parlament die tschetschenische Republik Itschkerien und damit Tschetschenien als von Russland besetztes Gebiet an.
Vor allem für mehrere EU-Staaten ist das von Bedeutung. Denn in Deutschland, Frankreich, Österreich und Belgien haben sich durch den zweiten Tschetschenienkrieg und die Flucht vor der russischen Zentralregierung sowie dem Kadyrow-Clan große Diaspora-Gemeinschaften gebildet. Sollte die Transformation des innertschetschenischen Konflikts vom Schlachtfeld in die internationale Politik weiter fortschreiten, werden europäische Regierungen und die Europäische Union gezwungen sein, sich entsprechend zu positionieren.
Kadyrow startete einen Telegram-Kanal in arabischer Sprache, auf dem er die Region über »Leben und Werk von Ramzan Kadyrow […] Diener des heiligen Koran« informiert
Innerrussische Fragen, die durch den Krieg mehr Dynamik und Tragweite bekommen haben, besitzen also durchaus das Potential, zukünftig internationale Politik zu beeinflussen. Verstärkt wird diese Entwicklung durch Kadyrows Bemühungen, sein politisches Profil zu schärfen und Russlands Krieg gegen die Ukraine für die eigenen Ambitionen nutzbar zu machen. So hat sich Kadyrow mit Nachdruck dafür eingesetzt, Tschetschenien in die ideologische Infrastruktur des Kremls und die russische Kriegslogik einzubauen.
Zum Beispiel brachte er gegenüber Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten seine Dankbarkeit und Wertschätzung zum Ausdruck, als sich beide Golfstaaten im Rahmen einer UN-Abstimmung in den ersten Tagen des Einmarschs in die Ukraine nicht der Position Washington und Brüssel anschlossen. Darüber hinaus startete Kadyrow einen Telegram-Kanal in arabischer Sprache, auf dem er die Region über »Leben und Werk von Ramzan Kadyrow […] Diener des heiligen Koran« informiert.
Durch das Zurschaustellen seiner besonderen Beziehungen zu Putin will er sich selbst als unverzichtbaren Machtspieler positionieren. Seit Jahren betont Kadyrow wiederholt, eine Vermittlerrolle zwischen der russischen Regierung und dem Nahen Osten, mit besonderem Schwerpunkt auf Saudi-Arabien, einnehmen zu wollen.
In gewisser Weise verfolgt er die politischen Ambitionen seines Vaters weiter, dem ehemaligen Präsidenten Tschetscheniens Akhmat Kadyrow, der 2004 bei einem Bombenattentat ums Leben kam. Kurz vor seinem Tod hatte Kadyrow Senior die Absicht kundgetan, Tschetschenien zu einem zentralen Bindeglied der russisch-saudischen Beziehungen zu machen. Im Westen wurden diese diplomatischen Bemühungen Tschetscheniens im Nahen Osten weitgehend ignoriert.
Prinzipiell gleicht Kadyrows Propaganda eher einem schlecht umgesetzten Actionfilm
Jegliche politische Relevanz ist allerdings ausschließlich abhängig von Putin und seiner Gunst gegenüber Kadyrow. Hätte aber Putin seinen Statthalter etwa durch militärische Beförderungen nicht weiter an sich gebunden und ihn so für seine Loyalität belohnt, so könnte sich der russische Präsident der Loyalität Kadyrows in fragilen Situationen nicht so sicher sein.
Die Entwicklungen während des russischen Kriegs in der Ukraine hinsichtlich Bekanntheit, Funktion und Position des tschetschenischen Präsidenten sollten Anlass dazu geben, abstraktere Strategien und Funktionsmechanismen des Machtapparats in Moskau zu analysieren und sich hier besonders der großen tschetschenischen Diaspora-Gemeinschaften in Europa bewusst zu werden, die von diesen Entwicklungen maßgeblich betroffen sind.
Wichtig sind in diesem Kontext natürlich auch Mutmaßungen über die Gesundheit des tschetschenischen Machthabers für Analysen über zukünftige Entwicklungen. Zum Beispiel, ob ein Machtwechsel an der Spitze Tschetscheniens zu erwarten ist, wobei allerdings zu beachten ist, dass Akhmat, der älteste Sohn Kadyrows, das Mindestalter von 30 Jahren für diesen politischen Posten mit 17 Jahren noch lange nicht erfüllen wird.
Prinzipiell gleicht Kadyrows Propaganda eher einem schlecht umgesetzten Actionfilm als ernstzunehmender Verbreitung von Ideologie oder Manipulation der öffentlichen Meinung. Aus diesem Grund wird der tschetschenische Machthaber oft in seiner Bedeutung für Putins Machtapparat unterschätzt. Durch größtenteils seltsam anmutende Propagandavideos hat Kadyrow sich zumindest die Aufmerksamkeit von Beobachtern auf Social-Media-Plattformen wie Twitter gesichert. Verbreitung finden seine Videos, Bilder und Nachrichten aber hauptsächlich über seinen Telegram-Kanal. Der ist seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine von etwa 50.000 Followern im Januar 2022 auf mittlerweile über drei Millionen Follower gewachsen – Tendenz steigend.
Miriam Katharina Heß ist Associate Fellow im Projekt »Islamistische Radikalisierung und Extremismus in Europas tschetschenischer Community« im Programm Sicherheit und Verteidigung der DGAP.