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Russland, Zentralasien und der Krieg gegen die Ukraine

Sie sind keine Vasallen mehr

Analyse
von Leo Wigger
Interview über Machtwechsel in Kasachstan
Nursultan Nazarbayev (l.) und Wladimir Putin 2017 bei einer Transportmesse in der kasachischen Hauptstadt Astana (heute Nursultan) Kreml

Russland verfügt in Zentralasien über erheblichen politischen und wirtschaftlichen Einfluss. Doch mit Beginn der Invasion in der Ukraine blieben die mehrheitlich muslimischen Staaten der Region auffallend still.

Zwischen Afghanistan im Süden, dem wirtschaftlich immer stärker in die Nachbarstaaten drängenden China im Osten sowie dem Kaspischen Meer im Westen liegen die fünf ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan.

 

In Europa gelten die mehrheitlich muslimischen Staaten Zentralasiens aufgrund ihrer tiefen politischen wirtschaftlichen, kulturellen und persönlichen Verbindungen oft schlicht als Russlands Verbündete. Dabei wird übersehen, dass die Länder der Region eigene Interessen vertreten. Tatsächlich sind die Verhältnisse komplex und unterscheiden sich stark von Land zu Land. zenith gibt eine Übersicht darüber, wo wer in der Region steht.

 

Kasachstan: Ein unmöglicher Balanceakt

 

Kasachstan durchlebte erst Anfang des Jahres die schwerste innenpolitische Krise seit der Unabhängigkeit 1991, nachdem im industrialisierten Westen des Landes Proteste wegen hoher Treibstoffpreise ausgebrochen waren. Sie breiteten sich wie ein Lauffeuer über das gesamte im regionalen Vergleich wohlhabende Land aus und richteten sich gegen Korruption und schlechte Regierungsführung, insbesondere der Führungsclique des ehemaligen Präsidenten und Landesvaters Nursultan Nasarbayev.

 

Die Massenproteste verliefen größtenteils friedlich, allerdings erlebte die Wirtschaftsmetropole Almaty heftige Ausschreitungen. Die Regierung von Präsident Kassym-Jomart Tokayev rief über das russische Militärbündnis OVKS – dem neben Kasachstan in der Region auch Tadschikistan und Kirgistan angehören – (hauptsächlich) russische Soldaten zu Hilfe, die wieder Ordnung in der Stadt herstellten und so halfen, das Regime in einer äußerst kritischen Phase zu stabilisieren.

 

Beobachter erwarteten deshalb, dass die Regierung Tokayev an strategischer Autonomie gegenüber Russland eingebüßt hätte. Doch nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine nur anderthalb Monate später blieb die erwartete offensive Unterstützung für die russische Invasion – anders als durch den von Russland an der Macht gehaltenen Aleksander Lukaschenko in Belarus – aus.

 

Stattdessen enthielt sich die kasachische Regierung in der UN-Vollversammlung bei der Abstimmung zur Resolution zur Verurteilung der russischen Invasion. In einem vielbeachteten Meinungsbeitrag für eine konservative amerikanische Fachzeitschrift richtete Tokayev sich direkt an ein westliches Publikum und bekräftigte die territoriale Integrität der Ukraine. 

 

Offiziell unbestätigten Berichten zufolge lehnte Tokayev eine russische Anfrage nach Entsendung kasachischer Soldaten in die Ukraine ab. Stattdessen schickte man humanitäre Hilfe an die Ukraine. Die halbstaatliche Airline Air Astana stoppte bis auf weiteres alle Flüge nach Russland und begründete dies mit versicherungsrechtlichen Problemen.

 

Tatsächlich hatte der Ukrainekrieg die Führung des flächenmäßig größten Turkstaates kalt erwischt. Zwar ist das Regime innen- wie außenpolitisch auf  Russland angewiesen, doch gleichzeitig weckt die Invasion nationale Urängste. Daher versucht die kasachische Regierung nun den Spagat einer möglichst großen Distanzierung von Russland – ohne sich jedoch offen gegen Moskau zu stellen.

 

In Kasachstans Norden an der Grenze zu Russland lebt eine zahlenmäßig große russische Minderheit. Nicht zuletzt, um eine russische Einflussnahme in Nordkasachstan zu verhindern, hatte Landesvater Nasarbayev 1997 die Hauptstadt von Almaty im tiefen Süden des Landes an das näher an der russischen Grenze gelegene Astana (heute Nursultan) verlegt.

 

Während des Ukraine-Krieges 2014 behauptete Putin in einer paternalistisch anmutenden Rede, dass die Kasachen keine Tradition von Staatlichkeit hätten und es für das Land wichtig sei, Teil der größeren russischen Welt zu bleiben. Vielen Kasachinnen und Kasachen ist diese Rede bis heute unvergessen.

 

Die Angst, als nächstes dasselbe Schicksal wie die nächste Ukraine zu erleiden, sitzt tief. Und so mag manchem Kasachen ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen sein, als der Kremlbarde Oleg Gazmanov am 18. März bei der streng durchchoreografierten großen Feier zum achten Jahrestag der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Moskauer Luschniki-Stadion vor den Augen Putins bei seiner Darbietung neben der Ukraine, Belarus und Moldau auch Kasachstan als Teil seiner großrussischen Heimat aufzählte.

 

Usbekistan: Abrupte Kehrtwende

 

Die ehemalige Sowjetrepublik Usbekistan befand sich gerade erst wieder auf einem wirtschaftlichem und politischen Annährungskurs gegenüber Russland. Moskau löste 2021 zum ersten Mal seit Jahren wieder Beijing als Taschkents größten Handelspartner ab. Russische Unternehmen planten mehrere Großprojekte; unter anderem sollten sie ein Atomkraftwerk in der Nähe der Hauptstadt bauen.

 

Der russische Oligarch Alischer Usmanov wurde in Usbekistan geboren und ist über Heirat eines Verwandten mit der Familie des Präsidenten Shavkat Mirziyoyev verbunden. Usmanov hatte erst vor kurzem von der Präsidentenfamilie Mehrheitsanteile an der wichtigen usbekischen Kapitalbank erworben. In britischen Medienberichten wird vermutet, dass sich Usmanov aktuell in Usbekistan aufhält.

 

Auch politisch gewann die Partnerschaft zu Moskau wieder an Gewicht. Das bevölkerungsreichste Land Zentralasiens ist zwar weder Mitglied der OVSK (nach zwei Austritten, zuletzt 2012) noch der Eurasischen Union, da sich in dem Turkstaat nationalistischer Widerstand gegen die einstige Kolonialmacht formierte. Doch Russland bleibt man in einer formalisierten strategischen Partnerschaft verbunden, die zuletzt ausgebaut wurde.

 

Dabei spielen Sicherheitsinteressen eine zentrale Rolle. Usbekistan hat, wie auch Turkmenistan und Tadschikistan, eine lange Landgrenze zu Afghanistan, wo eine große usbekische Minderheit lebt. Nicht erst seit dem Fall Kabuls blickt Taschkent mit Sorge auf die politischen Entwicklungen seines südlichen Nachbarn. Die Angst vor einem Überschwappen des islamischen Terrorismus eint Usbekistan und Russland.

 

Doch die Invasion in der Ukraine sorgte für einen plötzlichen Umschwung in der Hauptstadt Taschkent. Verpassten die usbekischen Diplomaten die Abstimmung zur Verurteilung der russischen Invasion in der UN-Vollversammlung am 2. März noch, kam es Mitte März zum Eklat, als Usbekistan mitteilte, die Unabhängigkeit der selbsternannten Volksrepubliken in Luhansk und Donetsk nicht anzuerkennen.

 

Stattdessen forderte der usbekische Außenminister Abdulaziz Kamilov eine diplomatische Lösung; und ließ humanitäre Hilfe in die Ukraine entsenden. Bei einem diplomatischen Treffen mit dem russischen und anderen Außenministern der Region ließ sich Kamilov offiziell aus Krankheitsgründen von seinem Vize vertreten. Gemeinsame Projekte liegen erst einmal auf Eis. Die russisch-usbekischen Beziehungen dürften sich von der Entfremdung nicht so schnell erholen. Usmanov verkaufte seine Anteile an der Kapitalbank wieder, als er Mitte März mit Sanktionen belegt wurde.

Kirgistan: Eigennütziger Partner

 

In der kirgisischen Regierung unter Präsident Sadyr Japarov fand Russland anfangs einen verhältnismäßig treuen Verbündeten. Japarov zeigte zu Beginn der Eskalation, beispielsweise in einem Facebook-Post vom 22. Februar, durchaus Verständnis für russische Forderungen. Zudem verbot die kirgisische Regierung, anders als Kasachstan und Usbekistan, Antikriegs-Demonstrationen und verhängte Geldstrafen gegen Aktivisten, auch wenn sie Proteste teils duldete.

 

Zuletzt distanzierte sich die Regierung jedoch vorsichtig von Russland. So bekräftigte Außenminister Chingiz Aidarbekov öffentlich das Prinzip der territorialen Integrität und forderte die Einrichtung von humanitären Korridoren.

 

Kirgistan hat seit Jahresbeginn den Vorsitz der Eurasischen Union inne. Das bitterarme Land ist, wie auch der südliche Nachbar Tadschikistan, stark von Rücküberweisungen von Gastarbeitern aus Russland abhängig, die rund 25 Prozent des Bruttoinlandproduktes ausmachen. Kirgisen arbeiten in Russland insbesondere in krisenanfälligen Wirtschaftszweigen wie der Gastronomie und im Einzelhandel.

 

Folglich erwarten Experten, dass das Land besonders von den Sanktionen gegen Russland getroffen wird. Die Rücküberweisungen könnten nach Schätzungen der Weltbank dieses Jahr um weitere 33 Prozent zurückgehen, dabei waren sie pandemiebedingt schon auf einem niedrigen Niveau.

 

Zurückgekehrte Gastarbeiter berichten davon, dass die russische Armee sie teils unter Angabe falscher Informationen zu rekrutieren versucht habe. Veröffentlichte oder geleakte Wehrregister und Sterbelisten legen nahe, dass überdurchschnittlich viele Zentralasiaten auf russischer Seite in der Ukraine kämpfen.

 

Anders als in den Nachbarstaaten konnte sich in Kirgistan nach der Unabhängigkeit eine kompetitive Demokratie entwickeln, die sich traditionell stärker an den Westen band als in den autoritäreren Nachbarstaaten. Kirgisische Regierungen spielten in der Vergangenheit immer wieder geschickt die Interessen ausländischer Mächte wie Russland, China, der Türkei oder der USA zum eigenen Vorteil gegeneinander aus, beispielsweise im Falle der Nutzungsrechte des Militärflughafens in Manas nahe der Hauptstadt Bischkek.

 

Der Abzug der Nato aus Afghanistan sowie zunehmend autoritäre Tendenzen unter Präsident Japarov haben neben der starken wirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland die strategischen Optionen der kirgisischen Regierung immer weiter eingeschränkt.

 

Tadschikistan: Der lange Schatten Afghanistans

 

Wie auch Kirgistan ist das noch ärmere Tadschikistan stark von Rücküberweisungen von Gastarbeitern in Russland abhängig. Tadschiken arbeiten in Russland insbesondere in der Baubranche.

 

Zudem hat die Partnerschaft der einzigen persisch-sprachigen Ex-Sowjetrepublik mit Russland noch eine stärkere Sicherheitskomponente. Tadschikistan ist das einzige zentralasiatische Land, das in Folge der Unabhängigkeit von der Sowjetunion in einen blutigen Bürgerkrieg (1992-1997) entlang von Clangrenzen und komplexer geografischer, ideologischer sowie religiöser Bruchlinien versank, den eine Allianz um den heutigen Autokraten Emomali Rahmon für sich entscheiden konnte. Das Erbe des Bürgerkrieges prägt das Land bis heute stark.

 

Zum einen gewannen immer wieder aufflammende Konflikte in der autonomen, von vielen Ismailiten bewohnten Region Berg-Badakhschan im Pamirgebirge seit dem letzten Herbst an Dynamik. Regelmäßige Proteste in der abgelegenen und dünn besiedelten Region, die 45 Prozent der Fläche Tadschikistans umfasst, werden von den Sicherheitsbehörden mit aller Härte unterdrückt. Teilweise war in der Region über Monate das Internet abgestellt.

 

Noch schwerer wiegt jedoch die Situation an der fast 1.400 Kilometer langen Landgrenze zu Afghanistan. Unter den Dschihadisten im Norden Afghanistans finden sich verhältnismäßig viele Zentralasiaten, insbesondere aus Tadschikistan. Einige Anhänger der islamistischen Opposition flohen nach dem verlorenen Bürgerkrieg nach Afghanistan und schlossen sich dort den Taliban an.

 

Die vor den Taliban geflohene afghanische Parlamentarierin Habiba Danish aus der Provinz Takhar, die einen Teil der Grenzregion zu Tadschikistan umfasst, berichtet im Gespräch mit zenith, dass zentralasiatische Taliban-Anhänger sich im letzten Sommer nur durch die Präsenz russischer Truppen davon stoppen ließen, die Grenze nach Tadschikistan zu stürmen.

 

Einige zentralasiatische Dschihadisten haben sich unterdessen dem mit den Taliban verfeindetem »Islamischen Staat Khorasan« angeschlossen, der seine Propaganda-Aktivitäten zuletzt auf zentralasiatische Sprachen ausgeweitet hat.

 

Tadschikistans Armee ist in einem schlechten Zustand und neben kaum ausgerüsteten und oftmals nur unter Gewalt eingezogenen Wehrpflichtigen auf die Hilfe der 201. Russischen Militärbasis in Tadschikistan angewiesen, um die Grenze zu Afghanistan zu sichern. Doch die offensichtlichen Probleme der russischen Truppen in der Ukraine sorgen für Zweifel, inwieweit Russland diesen Erwartungen zukünftig gerecht werden kann. Durchaus möglich also, dass Tadschikistan seine bestehenden Sicherheitspartnerschaften mit Indien, das in Tadschikistan einen Luftwaffenstützpunkt betreibt, sowie China ausbauen wird, die ihrerseits eine Rivalität pflegen. Rahmon ist schlichtweg auf jedwede Hilfe von außen angewiesen, die er bekommen kann.

 

Turkmenistan: Autokratisch, autark und neutral

 

Das energiereiche und selbst im regionalen Vergleich sehr autokratische Turkmenistan ist dagegen seiner Leitlinie der strikten politischen Neutralität treu geblieben und hat sich erwartungsgemäß mit offiziellen Verlautbarungen zum Ukraine-Krieg zurückgehalten.

 

Die turkmenische Wirtschaft ist im regionalen Vergleich am wenigsten von Russland abhängig. Analysten erwarten auch für 2022 ein von steigenden Energiepreisen angetriebenes Wirtschaftswachstum von über sechs Prozent.

 

In Bezug auf den südlichen Nachbarn Afghanistan hat Aschgabat bereits frühzeitig den Kontakt zu den Taliban gesucht und als erstes Land Zentralasiens formale Beziehungen zum neuen Regime aufgenommen. Turkmenistan plant den Bau einer Gaspipeline über Afghanistan nach Pakistan und Indien (TAPI). Ob das ambitionierte Projekt, das bereits seit fast 30 Jahren in der Schublade liegt, jemals umgesetzt werden kann, ist fraglich.

 

Anfang des Jahres übernahm mit Serdar Berdimuhamedov der Sohn des bisherigen Präsidenten die Macht. Beobachter erwarten, dass er die strategischen Leitlinien seines Vaters beibehalten und das Land nur vorsichtig öffnen wird. Als ersten ausländischen Staatchef empfing der junge Berdimuhamedov Anfang April unterdessen weder Putin noch einen Vertreter des Westens, sondern den indischen Präsidenten Ram Nath Kovind.

Von: 
Leo Wigger

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