Lesezeit: 13 Minuten
Syrien-Politik der Türkei

Die Dschihadisten verlieren die Kontrolle

Analyse
von Sam Heller
Die Hintergründe zum Syrien-Abkommen zwischen Russland und der Türkei
14. Februar 2020: Eine Demonstration am türkischen Armeestützpunkt in der Nähe von Binnish. Foto: Abed Kontar

Über zwei Jahre pflegte die Türkei eine zweifelhafte Kooperation mit dschihadistischen Gruppen in Idlib. Ein Leak deutet an, dass es damit bald vorbei sein könnte.

Idlib befindet sich nach wie vor außerhalb der Kontrolle der syrischen Armee, unterliegt aber auch nicht der türkischen Vormundschaft, die in anderen Gebieten Nordsyriens etabliert wurde. Die Provinz Idlib ist momentan das Zuhause für beinahe drei Millionen Menschen, von denen fast zwei Millionen als Binnenvertriebene aus anderen Teilen Syriens kamen, seitdem die syrische Regierung wieder auf dem Vormarsch ist. In Idlib ist aber auch der letzte große Sammelpunkt extremistischer Kämpfer. Seit Mitte 2017 ist die dschihadistische Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) die dominante Kraft in Idlib: Sie konnte die anderen Rebellengruppen unterwerfen und eine sogenannte Heilsregierung zur Verwaltung der Region einsetzen.

 

Ende März gelangte die Audiospur einer Motivationsansprache des HTS-Führers Abu al-Fateh al-Farghali an die Öffentlichkeit – Aufnahmeort und -datum sind nicht restlos geklärt, die Authentizität hat Farghali allerdings selbst bestätigt. Diese Audiospur ermöglicht einen einzigartigen Einblick in die Rhetorik der HTS-Führung gegenüber ihren eigenen Kämpfern.

 

Die Ansprache legt nahe, dass HTS an Kontrolle in Idlib eingebüßt hat. Farghali berichtet einer Versammlung von Kämpfern über einen Deal zwischen HTS und der Türkei und dass die Gruppe Bedingungen für eine Stationierung türkischer Truppen in Idlib diktiert habe. Doch nach Gebietsverlusten der Dschihadisten seien diese Konditionen, die aus einer Position der Stärke formuliert worden waren, nun »nichtig«. Gleichzeitig stellt Farghali klar, dass die türkische Armee stets als »ungläubige« und »abtrünnige« Institution angesehen wird. Wenn wir den Aussagen des HTS-Führers Glauben schenken, scheint der bisherige Modus Vivendi zwischen der Türkei und HTS aus dem Gleichgewicht geraten zu sein.

 

Die Türkei will eine Niederlage der Rebellen in Idlib unbedingt verhindern.

 

Die Provinz Idlib ist von großem strategischen Interesse für die Türkei: Erdoğans Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, eine Niederlage der Opposition in Idlib zu verhindern – aus Angst vor neuen großen Fluchtbewegungen ins eigene Land, in deren Reihen auch militante Dschihadisten in die Türkei gelangen könnten. Zu diesem Zweck schloss die Türkei eine ganz Reihe von Abkommen mit Russland und Iran, Verbündeten des syrischen Regimes, um Angriffen auf die Rebellen-Enklave vorzubeugen.

 

Im Mai 2017 hatten die Türkei, Russland und Iran die Region im Rahmen der Astana-Gespräche als »Deeskalationszone« deklariert. Im September kündigten die drei Staaten dann an, Beobachter rund um Idlib zu stationieren, um weitere Kämpfe zu verhindern und Verletzungen des Waffenstillstandes zu dokumentieren. Einen Monat später jedoch schien die Konfrontation in Idlib unabwendbar: Die türkische Regierung versammelte ihre Truppen und die ihrer syrischen Partner entlang der Grenze zu Idlib, woraufhin auch HTS seine Kämpfer in Stellung brachte.

 

Am 8. Oktober 2017 marschierte die Türkei dann tatsächlich in Syrien ein – jedoch offensichtlich in Koordination mit HTS: Die Gruppe erlaubte der Türkei, im Norden Idlibs drei Beobachtungsposten zu errichten. Eigentlich verpflichtete der »Astana-Deal« die Unterzeichnerstaaten zum Kampf gegen als terroristisch deklarierte Organisationen. Explizit wird darin die Dschabhat al-Nusra genannt, die vor ihrer Abspaltung im Jahr 2017 als syrischer Ableger von Al-Qaida fungiert hatte – HTS ist nichts anderes als eine Neuauflage eben dieser Nusra-Front.

 

Für die Türkei erschien eine direkte Konfrontation mit HTS jedoch kostspielig und unberechenbar, da eventuell mit Vergeltungsschlägen innerhalb des eigenen Landes zu rechnen wäre. Durch die Stationierung ihrer Truppen in Idlib im Oktober 2017 spielte die türkische Armee allerdings den Dschihadisten in die Hände: Seit die Anführer der Nusra-Front im Januar 2017 mit HTS eine neue Gruppe gegründet hatten, setzten sie alles daran, sich als unverzichtbarer Gesprächspartner zu etablieren – kein Weg zu einer Lösung für Idlib und seine Einwohner sollte an HTS vorbeigehen.

 

Als HTS sich im Januar 2018 gegen eine syrische Militäroffensive im dicht besiedelten Zentrum Idlibs verteidigen musste, erlaubten die Dschihadisten der Türkei die Einrichtung dreier weiterer Militärposten am östlichen Rand des Territoriums unter Kontrolle der Gruppe. Im Mai 2018 genehmigte HTS dann sechs weitere Posten im Süden und Westen Idlibs – damit hatte die Türkei Beobachtungspositionen rund um die gesamte Stadt bezogen.

 

Die Dschihadisten bauten ihre Kontrolle über die Stadt weiter aus und die Türkei tat nichts dagegen

 

Im Spätsommer 2018 fuhr Russland schwerere rhetorische Geschütze auf und drohte, eine syrische »Anti-Terror-Offensive« auf Idlib zu unterstützen. Die wurde dann allerdings durch ein neues Abkommen zwischen der Türkei und Russland im September verhindert. Darin verpflichtete sich die Türkei erneut zum Kampf gegen die »radikalen Terrorgruppen« und versprach, die strategisch wichtigen Fernstraßen M4 und M5 zu öffnen.

 

Diese Versprechen wurden nicht eingelöst. Stattdessen folgte eine verhältnismäßig ruhige Phase, in der HTS seine Kontrolle über Idlib weiter ausbauen konnte. Dabei fuhr das türkische Militär weiterhin unbehelligt durch HTS-Gebiete, um seine Beobachtungsposten zu besetzen. Währenddessen kam es immer häufiger zu Zusammenstößen zwischen dem syrischen Militär und bewaffneten Milizen.

 

Im April 2019 startete die syrische Regierung dann eine von Russland unterstützte Offensive auf die Region Idlib und eroberte die südliche Peripherie der HTS-Gebiete. Nach einer Unterbrechung von mehreren Monaten nahm Damaskus seine Offensive wieder auf und eroberte die gesamte Länge des M5-Highways.

 

Als das syrische Militär schließlich zu den türkischen Beobachtungsposten vorstieß, bezog die Türkei weitere Stellungen, um das Vorankommen der syrischen Regierung zu erschweren, verlegte syrische Rebellenkämpfer aus anderen Gebieten unter türkischer Kontrolle, rüstete seine syrischen Partner weiter auf und griff die syrischen Truppen schließlich sogar direkt mit Artilleriefeuer und Drohnen an. HTS und andere Dschihadisten bildeten weiterhin die Front gegen Damaskus, aber die direkten Eingriffe der Türkei wurden immer zentraler für die Verteidigung Idlibs. Dabei hatte die Armee erhebliche Verluste zu beklagen – allein am 27. Februar 2020 starben mindestens 34 Soldaten durch einen Luftangriff auf einen türkischen Militärkonvoi.

 

Am 5. März 2020 trafen sich Recep Tayyip Erdoğan und Wladimir Putin in Moskau und kamen zu einer neuen Übereinkunft, wodurch die Kämpfe ausgesetzt und weitere Verluste der Rebellen verhindert werden konnten. Das Abkommen erkannte die Territorialgewinne der syrischen Armee an und sah türkisch-russische Patrouillen in einem »Sicherheitskorridor« entlang des M4-Highways durch das Zentrum der Rebellen-Gebiete vor. Von den ursprünglich zwölf türkischen Beobachtungsposten lagen nun fast alle hinter der Frontlinie der syrischen Armee.

 

Die Türkei hatte zwar zuvor im Rahmen der Abkommen mit Russland und Iran verschärfte Anti-Terror-Verpflichtungen übernommen, argumentierte aber dennoch stets, dass nicht alle Teile von HTS zu den wirklich problematischen »Terroristen« in Idlib zu zählen seien. Doch während das türkisch-russische Abkommen vom September 2018 noch sehr allgemein von »radikalen Terrorgruppen« spricht, verpflichtet der Deal vom 5. März beide Länder explizit zur »Auslöschung aller Terrorgruppen in Syrien entsprechend der Deklaration des UN-Sicherheitsrates« – und die umfasst auch HTS. Russland betonte in der Folge erneut, dass die »Extremisten« und »Terroristen« in Idlib ausgeschaltet werden müssten, und dass weitere Versuche, HTS ein neues Image zu geben, nichts nützen würden.

 

»Die Türken sind Ungläubige und Abtrünnige«

 

In der kürzlich geleakten Ansprache erklärt Farghali seinem Publikum wie die türkischen Truppenbewegungen in Idlib seit 2017 mit HTS abgesprochen waren – und wie HTS diese Schritte rechtfertigte. Die Audioaufnahme wurde Ende März von syrischen Rebellenführern verbreitet, die auf Kriegsfuß mit HTS stehen. Am 1. April veröffentlichte Farghali selbst dann die vollständige Datei auf seinem Telegram-Kanal und sagte, die Aufzeichnung sei etwa zwei Monate alt. Zu dieser Zeit, Anfang Februar, hielt sich HTS aufgrund hoher Verluste nur mühsam über Wasser – gleichzeitig intensivierte die Türkei ihr Engagement in Idlib.

 

Der Ägypter Abu al-Fateh al-Farghali, dessen richtiger Name Yehya al-Farghali lautet, ist Mitglied des »Obersten Rechtsrates« von HTS und ist verantwortlich für die religiöse Konformität aller Entscheidungen der Gruppe. Gemeinsam mit den anderen Religionsbeauftragten kümmert er sich außerdem um Motivation und allgemeine spirituelle Führung.

 

Auch die geleakte Ansprache war eine Motivationsrede. Auf seinem Telegram-Kanal erklärt Farghali, es handele sich um »eine Lehrstunde für die Mudschahidin, da einige von ihnen sich weigerten zu kämpfen, als diejenigen, die immer Misstrauen säen, die Idee verbreiteten, die derzeitigen Kämpfe würden den Weg für eine türkische Besatzung ebnen.«

 

Bereits nach einer kurzen Einleitung, inklusive Rückbesinnung auf die großen islamischen Siege gegen mächtige Armeen nach dem Tod des Propheten Muhammad, geht er auf die Fragen seiner Zuhörer ein – die drängendste: »Was sollen wir von den neuen türkischen Truppenstationierungen in Idlib halten?«

 

Farghali erklärt den versammelten HTS-Kämpfern zuerst, dass das türkische Militär nicht muslimisch sei, auch wenn die Türken selbst Muslime sind. Laut der türkischen Verfassung, so Farghali, sei das Militär eine säkulare Institution, und Säkularismus sei »Ungläubigkeit« und »Abtrünnigkeit« vom Islam. Jeder, der sich für säkulare Ideen oder die Herrschaft des Volkes einsetze, könne genauso gut behaupten, Gott würde ihn nicht regieren, so Farghali. »Bei jedem, der dies sagt, besteht kein Zweifel an seinem Abfall vom Glauben«, erklärt er seinen Zuhörern.

 

Als ihn ein HTS-Kämpfer fragt, wie und ob türkische Soldaten auf individueller Basis beurteilt werden sollten, antwortet Farghali nicht weniger streng. Es möge zwar einige Soldaten geben, die zum Dienst gezwungen werden oder die spirituellen Implikationen ihrer Taten nicht verstehen. Das türkische Militär sei aber an sich eine ungläubige Institution und türkische Soldaten müssten generell als Abtrünnige gesehen werden.

 

Die Kooperation mit der Türkei basierte auf Bedingungen, die HTS diktierte.

 

Im Anbetracht dieser These stellt Farghali selbst die rhetorische Frage, weshalb HTS einer säkularen Armee überhaupt erlaubt habe, in Idlib zu agieren. Die Antwort ist pragmatisch: HTS lehne zwar das Astana-Abkommen grundsätzlich ab, musste damals aber gleichzeitig an mehrere Fronten kämpfen – gegen die syrische Armee, gegen den »Islamischen Staat« (IS) und gegen andere Rebellengruppen. Als die Türkei in dieser Situation ihre Truppen in Idlib stationieren wollte, »wäre es schwierig gewesen, das abzulehnen und dadurch eine weitere Front zu eröffnen«, so al-Farghali.

 

Dennoch habe sich HTS der Herausforderung gestellt und seine Truppen an der türkischen Grenze gesammelt, um Widerstand gegen einen Vormarsch der Türkei zu leisten, erklärt Farghali seinen Zuhörern. Aber dann sei ein Kompromissvorschlag erreicht worden: Der Türkei würden drei Beobachtungsposten zugesichert, um diese ihrem russischen Partner als Fortschritt zu präsentieren. Farghali und der »Rechtsrat« hätten entschieden, eine türkische Stationierung wäre in Anbetracht der Situation das kleinere Übel – als Rechtfertigung bemühten die Dschihadisten das islamische Rechtskonzept des »Rückgriffs auf die Ungläubigen gegen die Ungläubigen« (al-isti’ana bil-kafir ala al-kafir), das für »Notsituationen« vorgesehen ist.

 

Daher erlaubte HTS dem türkischen Militär, Positionen innerhalb Idlibs zu beziehen, stellte allerdings einige Bedingungen dafür, so Farghali. Die wichtigste sei gewesen, dass HTS weiterhin »al-zuhur« (die Oberhand) über türkische Truppen hielt, um diese im Notfall ausweisen zu können. Außerdem wurde gefordert, dass die Türkei sich nicht in die Regierungsgeschäfte Idlibs, inklusive der Rechtsprechung, einmischen dürfe, wie sie das in anderen Teilen Nordsyriens bereits getan hatte. Des Weiteren wurde der Türkei verboten, in den »Dschihad« der Milizen in Idlib einzugreifen – die Gruppen sollten selbst entscheiden dürfen, wann und wo sie kämpfen. Die erste Bedingung, al-zuhur, war dabei als Garantie für die beiden anderen gedacht.

 

Farghalis Version dieser Bedingungen entspricht dem, was er selbst und andere HTS-Mitglieder damals auch öffentlich äußerten. Was jedoch bisher nicht explizit öffentlich gemacht wurde, war die (religions)rechtliche Grundlage für die Kooperation mit der Türkei, die auf der Prämisse beruht, dass türkische Soldaten Abtrünnige sind – al-isti’ana bil-kafir.

 

»Ich habe nicht mehr die Stärke, den Türken etwas vorzuschreiben«

 

Anfangs hatte HTS dem türkischen Militär nur drei Beobachtungsposten zugestanden. Doch die Dschihadisten mussten ihre Position überdenken, als sie immer mehr Gebiete an die syrische Armee verloren. Nachdem eine ursprüngliche Anfrage der Türkei aus dem Januar 2018, Truppen in Ost-Idlib zu stationieren, abgelehnt wurde, änderte HTS seine Meinung später. Gemeinsam mit uigurischen Dschihadisten gelang es HTS, einige Schlüsselpositionen einzunehmen, woraufhin »wir das türkische Militär hereingeholt und in drei weitere Beobachtungspunkte stationierten«, so Farghali. Nachdem HTS durch Kämpfe mit anderen Rebellen geschwächt worden war, wurden den türkischen Truppen sechs weitere Militärposten zugestanden.

 

Dennoch, behauptet Farghali, hatten die von HTS gesetzten Konditionen zwei Jahre lang Bestand. Die Türkei habe sich in dieser Zeit nicht in die administrativen Angelegenheiten Idlibs eingemischt. Ebenso wenig hätten türkische Truppen die Milizen daran gehindert, sich zu patrouillieren und zu kämpfen, wo und wie sie es für sinnvoll erachteten. HTS lehnte eine weitere Verstärkung der türkischen Armee im Sommer 2019 ab, ebenso die Anfrage, neue Positionen entlang des M4-Highways zu beziehen.

 

Doch dann setzte die jüngste Serie von Verlusten der Rebellen ein, die laut Farghali bereits im Mai 2019 begonnen hatte. In Bezug auf diese Niederlagen nutzt Farghali das Wort inkisar, was »zerbrochen« oder »zerschlagen« impliziert.

 

Farghali räumt ein, dass die grundlegende Bedingung (zuhur) seit dieser Niederlage (inkisar) hinfällig ist – HTS-Truppen haben nicht mehr die Oberhand in Idlib. Als die Türkei daher eine Verstärkung der Truppen forderte, hatte HTS keine realistische Aussicht, dies zu verhindern. Die ursprüngliche Bedingung für das Kooperationsmodell nach dem Muster »al-isti’ana bil-kafir« war damit vom Tisch. »Ich bin nicht mehr in der Position der Stärke, den Türken etwas vorzuschreiben«, muss Farghali den versammelten Kämpfern mitteilen, »das sage ich euch ganz ehrlich«.

 

Dabei sieht Farghali den Kampf noch lang nicht verloren: »Wenn Gott es erlaubt und wir unsere Gebiete wieder zurückerobern können, dann wird es die einfachste Sache der Welt sein, die Türken wieder rauszuwerfen.« Für den Fall, dass das türkische Militär dann nicht von selbst geht, lässt Farghali keinen Zweifel daran, dass HTS die Türkei »wie jede andere Besatzungsmacht bis zum Tode bekämpfen werde.«

 

»Nicht einmal, wenn wir alle ausgelöscht werden, wollen wir uns von säkularen Institutionen regieren lassen«

 

Anschließend nimmt Farghali seinen Zuhörern eine weitere Frage vorweg: Ist es unter diesen Umständen religiös vertretbar, gemeinsam mit der Türkei und ihren syrischen Partnern gegen die syrische Armee zu kämpfen? Immerhin ist »al-isti’ana bil-kafir« nur für muslimische Kämpfer gedacht, die sich mit Ungläubigen zusammentun, um für ihre eigenen Ziele und unter dem Banner des Islam zu kämpfen. Falls diese Kämpfer stattdessen zum Anhängsel der Ungläubigen werden und unter deren Befehl kämpfen, käme dies laut übereinstimmender Meinung von Dschihadisten dem Abfall vom Glauben gleich.

 

Farghali erklärt den HTS-Kämpfern, in diesem Fall sei es erlaubt, in den Kampf zu ziehen. Die Türkei agiere so oder so in Idlib und es sei nun das kleinere Übel, weiterzukämpfen – und besser als der Türkei und ihren nicht-dschihadistischen Partnern einen Sieg über HTS zu ermöglichen.

 

Dennoch, so Farghali, sollten HTS-Kämpfer lieber auf dem Schlachtfeld sterben, als säkulare Rechtssysteme zu akzeptieren: »Nicht einmal, wenn wir alle ausgelöscht werden, wollen wir uns von säkularen Institutionen regieren lassen.« Für den Fall, dass HTS nicht mehr in der Lage sei, weiterzukämpfen, solle die Gruppe eben den Rückzug antreten.

 

In seinem Abschlussstatement appelliert der HTS-Führer an seine Männer, nicht den Mut zu verlieren oder zu resignieren: »Wenn ihr jetzt aufhört zu kämpfen, wo wollt ihr dann hin? Wollt ihr, dass die Russen und Alawiten machen, was sie wollen, weil ihr eure Religion nicht verteidigt habt?«

 

Farghalis Ansprache ermöglicht eine neue Perspektive auf die dschihadistische Theorie der HTS-Führung

 

Seit der ersten Stationierung türkischer Truppen in Idlib im Oktober 2017 hat HTS in öffentlichen Statements einen immer freundschaftlicheren Ton gegenüber der Türkei angeschlagen. Dabei wurden die Türken als »muslimische Brüder« gefeiert – allerdings nicht der türkische Staat, der in den Augen der Dschihadisten eine »Beleidigung Gottes« darstellt. In einer Stellungnahme zum türkisch-russischen Abkommen vom 5. März dankte HTS sogar der türkischen Regierung für »ihre klare Position an der Seite der syrischen Revolution und ihre Beteiligung an der Verteidigung von Zivilisten«, auch wenn die Gruppe das Abkommen ansonsten ablehnte.

 

Solche Aussagen haben nichts mehr mit den ursprünglichen Statements der Nusra-Front zu tun. Im Januar 2012 beispielsweise bezeichnet hatte Abu Muhammad Al-Dschaulani, Führer der Nusra-Front und später Kopf von HTS, die Türkei als »Keule der Amerikaner« und weiter: »Der Islam des türkischen Regimes ist inhaltsleer, ein Bild ohne Bedeutung, ein Körper ohne Seele.«

 

Farghalis geleakte Rede ermöglicht eine neue Perspektive auf die nach wie vor unklaren Beziehungen von HTS mit der Türkei: Inzwischen wissen wir, dass HTS-Führer ihren Mitgliedern noch in diesem Februar noch eintrichterten, dass der türkische Staat eine Institution der Ungläubigen und türkische Soldaten in Idlib Abtrünnige seien.

 

Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob diese kompromisslose Rhetorik auch die tatsächliche Einstellung der HTS-Führung widerspiegelt. Die HTS-Anführer gelten eigentlich als Pragmatiker, was allerdings nicht heißen muss, dass sie ihre dschihadistischen Glaubensgrundlagen aufgegeben haben. Wir können auch nicht mit Sicherheit sagen, dass diese Rhetorik die Haltung der HTS-Kämpfer ausdrückt. Einige der Fußsoldaten könnten extreme Ansichten vertreten, während andere vielleicht nur durch persönliche Kontakte oder Gehaltszahlungen an die Gruppe gebunden sind.

 

Wir wissen allerdings, dass die HTS-Führung in Person von Farghali zumindest eine konkrete Ansammlung von Kämpfern, und damit einen Teil der Basis, explizit anweist, wie mit den türkischen Abtrünnigen umzugehen sei. Damit scheint seine Rede ein besonders klares Beispiel für dschihadistische Theorie und Rhetorik zu sein – offensichtlich können diese abstrakt oder wenig relevant wirkenden Konstrukte einen direkten Einfluss auf den Kampfgeist und damit die Schlagkraft der Gruppe haben.

 

Außerdem erfahren wir aus dieser Aufnahme, dass HTS vor seinen eigenen Männer einräumt, nicht mehr die Oberhand in Idlib zu haben, und den Türken effektiv nicht mehr die Stirn bieten zu können – auch wenn die Idee des zuhur vielleicht von Anfang nichts mehr als eine hilfreiche Schimäre gewesen war.

 

Lange galt HTS als unliebsamer, aber unvermeidbarer Partner in Idlib – ist es damit nun vorbei?

 

Seit dem Waffenstillstand vom 5. März hat die Türkei ihre Truppenstärke innerhalb der Provinz Idlib weiter aufgestockt, auch nachdem zwei türkische Soldaten von »radikalen Gruppen«, so Ankara, getötet wurden.

 

Die bisherige türkische Strategie war eher unkonventionell: Die Türkei implementierte die Idlib-Abkommen, welche sowohl die Einstellung der Kampfhandlungen als auch Schritte zur Vertreibung dschihadistischer Gruppen beinhaltete, in Kooperation mit HTS, einer international designierten Terrororganisation, die unter keinen Umständen die Waffen niederlegen will. Damit stand die Türkei auch in Widerspruch zu den anderen Garantiemächten der Abkommen, wie Russland mehrfach betonte.

 

Doch nun scheint die Beziehung der Türkei mit HTS nicht mehr auf Konsens zu beruhen. Die Situation in Idlib bleibt kompliziert – so durchqueren türkische Truppen weiterhin HTS-Gebiete auf dem Weg zu ihren Stützpunkten. Doch die Türkei hat nun neue Handlungsfreiheit gewonnen.

 

Für diejenigen, die Idlib verteidigen wollen, erschien HTS lange Zeit als unliebsamer, aber unvermeidbarer Partner. Wenn dies nun nicht länger der Fall ist, eröffnen sich Spielräume für neue russisch-türkische Übereinkommen auf Kosten der Dschihadisten – vielleicht können nun russische Interessen befriedigt werden, was weitere syrische Militäroffensiven auf Idlib verhindern könnte.

 

Dabei ist unklar, ob die Eliminierung der Dschihadisten in Idlib aus russischer Perspektive ausreichend wäre – Moskau könnte genauso gut fordern, dass alle bewaffneten Rebellengruppen, die sich dem syrischen Staat nicht unterordnen wollen, zerschlagen werden müssen. Doch bisher war der Kampf gegen dschihadistische Gruppen in Idlib der Schwerpunkt russischer Rhetorik. Farghalis Ansprache legt nahe, dass derzeit alle Grundlagen für ein effektives russisch-türkisches Abkommen gegeben sind.

 

Die entscheidende Frage für die Zukunft Idlibs und seiner Bewohner lautet nun: Ist HTS immer noch unverzichtbar, obwohl die Gruppe nicht mehr die Oberhand hat? Oder hat HTS seinen Einfluss verloren, da die Gruppe nicht mehr die Bedingungen diktieren kann?


Sam Heller Sam Heller lebt als unabhängiger Autor und Syrien-Experte in Beirut. Dieser Artikel Artikel erschien zuerst auf Englisch auf dem Fachblog War on the Rocks. Übersetzung und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autoren.

Von: 
Sam Heller

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