Trotz mieser Wirtschaftslage stehen Erdoğans Chancen auf eine Wiederwahl gut. Und selbst bei einer Schlappe im Mai werden die wichtigsten Politiklinien des Präsidenten Bestand haben.
Seit zwei Jahrzehnten regiert Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Türkei mit seiner AKP fast uneingeschränkt. Die Koalition mit der ultranationalistischen MHP bedeutete keine Machteinschränkung für die Muhafazakar – (konservative) Demokraten – wie sich die AKP-Mitglieder gerne bezeichnen. Nach den Wahlen im Mai 2023 möchte der gegenwärtige Präsident der Türkei das Land für eine weitere Dekade regieren. Die Chancen dafür könnten möglicherweise besser stehen, als die Umfragen suggerieren.
Und das, obwohl Erdoğan zur Bekämpfung der Inflation ohne viel Widerstand der türkischen Zentralbank eine »Politik des billigen Geldes« durchsetzen konnte, und damit maßgeblich für die miserable wirtschaftliche Situation der Türkei verantwortlich ist. Im Zuge dieser Geldpolitik wurden Zinsen gesenkt und Finanzierungsbeschränkungen aufgehoben. Diese Maßnahmen sollten die Wirtschaft beleben und den Lebensstandard der türkischen Bevölkerung anheben. Der Erfolg lässt auf sich warten – die Inflationsrate liegt derzeit bei etwa 64 Prozent.
Bisher wurde vor allem in türkischen Großstädten – darunter Istanbul, Ankara und Izmir – die politische Dominanz von Präsident Erdoğan und seiner AKP durchbrochen. Doch wie aussagekräftig sind die Wahlerfolge der Opposition mit Blick auf die landesweite Abstimmung Mitte Mai wirklich?
Viele Anhänger von Präsident Erdoğan sind der Überzeugung, dass die schlechte Wirtschaftslage einer Glaubensprüfung gleichkommt. Erinnert sei hier etwa an die zahlreichen Minenunfälle in den letzten Jahren. »Kader«, also göttlicher Willen, sei für das Geschehen verantwortlich, und die Gläubigen – so schwer es ihnen auch fällt – müssen die Entwicklung akzeptieren.
Erdoğan weiß um die politische Nähe einiger Oppositionsparteien und kann Übereinstimmungen gewinnbringend für sich nutzbar machen
Zwar kritisiert die Opposition den autoritären Führungsstil des Staatsoberhaupts, gleichzeitig sind einige ihrer Führer politisch nicht weit von Präsident Erdoğan entfernt. Abtrünnige MHP-Mitglieder gründeten etwa 2017 die İyi Parti und stimmen in vielen Punkten mit ihrer ehemaligen Mutterpartei inhaltlich überein. So lehnt die Partei von Meral Akşener beispielsweise jegliche Kooperation mit der »Demokratischen Partei der Völker« (HDP) ab. Präsident Erdoğan weiß um diese politische Nähe einiger Oppositionsparteien und -mitglieder und kann politische Übereinstimmungen gewinnbringend für sich nutzbar machen – etwa mit Blick auf Fragen der Minderheiten in der Türkei und in Bezug auf den türkischem Nationalismus.
Ein wichtiger Faktor, der Erdoğan zum möglichen Wahlsieg verhelfen könnte: Bisher haben die westlichen Allianzpartner immer zögerlich auf die Positionierung der Türkei in geopolitischen Fragen reagiert. So hat er sich unter weiten Teilen der Bevölkerung eine Legitimation aufgebaut, dass nur ein islamischer Führer wie er in der Lage sei, dem Westen entschlossen entgegenzutreten und die Interessen der Türkei zu verteidigen.
Dabei greifen Erdoğan und seine AKP gerne auf eine »osmanische Rhetorik« zurück, um ihre Politik als eine Art Wiederbelebung außenpolitischer Leitlinien zu präsentieren. So werden Konflikte im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei nicht nur auf aktuelle Entwicklungen und Veränderungen im internationalen System seit dem Kalten Krieg oder eigene Fehlentscheidungen zurückgeführt, sondern auch bewusst mit historisch weit zurückliegenden Ereignissen verknüpft und als eine Art von Wiedergutmachung für die Erben des Osmanischen Reiches präsentiert.
Gerade in Syrien kommt diese politische Leitlinie zum Tragen. Erdoğan machte mehrmals deutlich, dass die Türkei keine »Erlaubnis« brauche, um ihre geopolitischen Interessen jenseits ihrer Grenzen durchzusetzen. Als ab 2011 der syrische Bürgerkrieg ausbrach, reagierte die Türkei sehr entschlossen und versuchte, einen Machtwechsel in Damaskus zu erreichen. Dabei ging die Türkei so weit, dass sie dschihadistische Gruppen unterstützte, um Baschar Al-Assad zu Fall zu bringen.
Viele Erdoğan-Anhänger sehen im Verhalten gegenüber Nato-Beitrittskandidat Schweden eine Bestätigung für ihre Wahlentscheidung
Zugleich ging sie militärisch gegen kurdische Einheiten vor, die mit den USA gemeinsam den bewaffneten Kampf gegen den IS führten. Dieses Vorgehen führte dazu, dass sich die Beziehungen zwischen Ankara und Washington weiter verschlechterten. Erdoğan legitimierte sein Vorgehen unter anderem damit, dass die Türkei keine Entwicklungen dulden könne, die bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges dazu geführt hätten, die territoriale Integrität seines Landes in Frage zu stellen. Auch die türkische Intervention in Libyen folgte mitunter ähnlichen geopolitischen Argumentationslinien.
So wie er in Syrien nicht davor zurückschreckte, Dschihadisten zu unterstützen, um sein Image als alleiniger Retter der Türkei aufrechtzuerhalten, ist Erdoğan auch derzeit entschlossen, für seine politischen Ziele die Nato in politische Geiselhaft zu nehmen. Wie autoritäre Zeitgenossen vor ihm strebt er danach, sowohl innerhalb der Türkei als auch innerhalb der Nato durch eine autoritäre politische Haltung seine Bedeutung auf geopolitischem Parkett unter Beweis zu stellen. Der Beitrittsprozess Schwedens und Finnlands bietet Erdoğan dafür derzeit eine Möglichkeit.
Bewusst signalisiert er, dass ihn das Recht souveräner Staaten und internationaler Allianzen nicht interessieren, sollten diese nicht willens sein, seine Ziele zu unterstützen. Dieses Vorgehen hat auch zum Ziel, die EU politisch zu verunglimpfen. Erdoğan und Mitglieder der AKP werfen Brüssel vor, nie ein aufrichtiges Interesse an einem Beitritt der Türkei gehabt zu haben und zudem über Jahre terroristische Organisationen zu beherbergen, die die türkische Souveränität untergraben wollen. 130 dieser »Terroristen« leben nach türkischen Angaben in Schweden und sollen an die Türkei ausgeliefert werden. Viele Erdoğan-Anhänger sehen in solchem Vorgehen eine Bestätigung für ihre Wahlentscheidung.
Die Türkei und die USA verfolgten im Rahmen des Kalten Krieges eine enge Kooperation mit Blick auf den Nahen Osten. Gegenwärtig ist die Stimmung zwischen den beiden Ländern mehr als nur schlecht. Erdoğan und seine AKP haben den USA mehrfach vorgeworfen, terroristische Organisationen zu unterstützen, die die territoriale Integrität der Türkei bedrohen. Ankara verweist vor allem auf den PKK-Ableger YPG, der in Syrien operiert. Zudem macht man Washington mitverantwortlich für den gescheiteren »Putsch« von 2016 – nicht zuletzt weil der angebliche Drahtzieher, der frühere Erdoğan-Vertraute Fethullah Gülen, weiterhin in den USA residiert.
Eine neue Regierung wird zuerst versuchen, die Zinssenkung zurückzunehmen
Bereits jetzt haben in Deutschland angesiedelte türkische Organisationen im Vorfeld der Wahlen AKP-Politiker in ihre Einrichtungen eingeladen und prahlen damit, dass ihre Gegner nirgends auf der Welt vor Erdoğan sicher seien. Dies zeigt einmal mehr, dass die politische Strategie von Erdoğan auch innerhalb der türkischen Diaspora Anklang findet. Es ist davon auszugehen, diese Entwicklung in den nächsten Jahren anhält, sollte Erdoğan die Wahlen im Mai 2023 gewinnen.
Sollte sich die Opposition auf einen Spitzenkandidaten (oder eine Spitzenkandidatin) einigen können und tatsächlich den Machtwechsel schaffen, wird die Wirtschaftslage die volle Aufmerksamkeit der neuen Administration verlangen. Anders gesagt, eine neue türkische Regierung wird mit großer Wahrscheinlichkeit zuerst versuchen, das Chaos in den Griff zu bekommen, und die Zinssenkung zurückzunehmen. An der Bekämpfung der Inflation führt kein Weg vorbei.
Wie rasch Erdoğans Präsidialsystem aufgelöst wird oder ob es überhaupt aufgelöst werden kann, ist dagegen noch kaum abzusehen. Auch wenn die Opposition momentan einstimmig für einen politischen Wandel in der Türkei eintritt, kann sich dies nach der Wahl durchaus ändern. Einmal an der Macht, können auch die gegenwärtigen Oppositionsparteien die Haltung einnehmen, dass das System Erdoğan ihnen mehr Vorteile bringt als Nachteile.
Es ist auch möglich, dass eine neue Regierung Erdoğans außenpolitischen Kurs weiterführt. In der Kurdenfrage kommt die Opposition bislang nicht auf einen Nenner. Dass die EU und die USA die Interessen der Türkei nicht ernstnehmen, befinden weite Teile des politischen Spektrums. Der fehlende Konsens innerhalb der Opposition hinsichtlich der Vorgehensweise mit Blick auf diese wichtigen Fragen wird sich nach der Wahl einer neuen Regierung nicht in Luft auflösen. Vielmehr ist zu erwarten, dass diese Fragen innerhalb der neuen Regierung – wie auch immer sie sich dann zusammensetzt –zu Spannungen führen. Es ist durchaus möglich, dass auch die Syrien-Strategie weiterverfolgt wird. Ebenso ist es nicht unwahrscheinlich, dass die neue Regierung die Beziehungen zu Russland aufrechterhält und die bisherige AKP-Politik weiterführt.
Kurz gesagt, die Türkei wird möglicherweise viele Jahre benötigen, um sich vom politischen Erbe Erdoğans loszulösen.