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Bankenkrise im Libanon

Das libanesische Schneeballsystem

Analyse
Bankenkrise im Libanon
Viele Bankfililalen im Libanon, wie diese hier in Tripoli, haben nach den Ausschreitungen infolge der Finanzkrise zusätzliche Vertärkungen aus Eisen an den Fassaden legen lassen. Foto: Thore Schröder

Libanons Finanzkollaps legt die Wirtschaft lahm, die Wut der Menschen entlädt sich an den Banken. Eine Analyse über die Gründe für die Liquiditätskrise und welche Maßnahmen die Abwärtsspirale stoppen könnten.

Was ist geschehen?

Inmitten der Corona-Pandemie erlebt der Libanon eine zweite, existenzielle Krise. Im Zentrum steht die größte Stadt im Norden des Landes, Tripoli, wo Demonstrierende bekennen: »Lieber auf der Straße an Corona sterben, als zu Hause verhungern!« Die Proteste verlaufen zunehmend gewaltsam, enden häufig in Straßenschlachten mit der Polizei und zerstörten Bankfilialen. Mittlerweile ist die Sorge vor Sachbeschädigungen derart groß, dass Banken ihre Niederlassungen mit Eisenabdeckungen verkleiden. Doch warum entlädt sich die Wut gerade dort? Die Antwort: Die Banken sind ein Hauptakteur in der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise, mit der sich das Land konfrontiert sieht.

 

Der kleine Mittelmeeranrainer ist mit 150 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) verschuldet, der Wert des libanesischen Pfund sank von 1.500 auf 3.600 je Dollar, die Inflation liegt aktuell wohl bei 30 Prozent und nach manchen Schätzungen ist mehr als jeder dritte Libanese arbeitslos. Am deutlichsten spüren Libanesen die Konsequenzen der Finanzkrise am Bankautomaten – wenn die Maschine sich weigert, US-Dollar auszugeben.

 

Worum geht es eigentlich?

Die libanesische Wirtschaft ist abhängig von Devisen – und um an die benötigten US-Dollar zu kommen, wurde ein staatliche gefördertes Schneeballsystem errichtet. Zum einen war da der Wunsch der libanesischen Zentralbank, Geldreserven in US-Dollar anzulegen, um den festen Wechselkurs von 1.500 libanesischen Pfund auf einen US-Dollar halten zu können. Mit den Dollarreserven konnten die Währungshüter die schwache Nachfrage nach dem libanesischen Pfund stärken, indem sie es einfach selber kauften. Die Währung behielt ihren Wert, der Wechselkurs blieb stabil.

 

Zugleich wollten auch die libanesischen Regierungen neue Schulden in US-Dollar aufnehmen, um den vom Staat betriebenen Energiesektor und andere Ausgaben finanzieren zu können. Ausgaben, für die der Fiskus Devisen benötigt, da das Land den Großteil aller Waren nicht produziert, sondern importiert. Aus demselben Grund benötigte auch die libanesische Privatwirtschaft US-Dollar. Aber woher sollten all diese Devisen kommen?

 

Die Antwort war ein finanzwirtschaftliches Schneeballsystem, und das funktioniert so: Die libanesische Zentralbank vergibt hohe Zinsen auf Einlagen in US-Dollar. Gleichsam gab die Regierung Staatsanleihen mit ähnlich hohen Zinsen aus. So wurde es für die Privatbanken des Landes lukrativ, US-Dollar bei der Zentralbank anzulegen oder Staatsanleihen zu kaufen. Devisen, die sich die Banken besorgten, in dem sie einen Teil der spektakulär hohen Zinsen weiterreichten.

 

Während ein Anleger bei deutschen Banken kaum 0,25 Prozent Zinsen erhielt, winkten bei libanesischen Banken mitunter mehrere Prozent nur für das Eröffnen eines Kontos in US-Dollar. Dieses Angebot zog somit auch viele Anleger aus der libanesischen Diaspora an, die noch immer eng mit dem Land verbunden sind. So konnten sie direkt ihre im Ausland verdienten Devisen mit hohem Gewinn anlegen.

 

Woher aber nahm die Zentralbank das Geld für die Zinsen? Die Antwort: Indem sie sich noch mehr Geld lieh und dafür noch höhere Zinsen versprach. So stieg der Zins zeitweise auf acht Prozent, als in anderen Ländern der Region Zinssätze zwischen ein und zwei Prozent üblich waren. Auf diese Art erhöhte die Zentralbank zwischen 2017 und 2019 ihre US-Dollar-Reserven um 70 Prozent. Anleger und Privatbanken erzielten mit ihren Einlagen von insgesamt 170 Milliarden US-Dollar einen Gewinn von bis zu fünf Milliarden US-Dollar – pro Jahr.

 

Wie bei jedem Schneeballsystem geht das nur solange gut, wie alle Beteiligten daran glauben. Und dieser Glauben wurde im Herbst 2019 erschüttert, als große Teile der Bevölkerung ihren Unmut über Korruption und Misswirtschaft der Regierung auf die Straße trugen. Anleger aus aller Welt zogen daraufhin massenhaft Geld aus dem Libanon ab– schätzungsweise 28 Milliarden US-Dollar. Das Problem: Die Banken waren nicht flüssig, denn sie hatten ihr Geld ja bei der Zentralbank angelegt, die es wiederum bereits investiert hatte. In der Folge können die Banken bis zu 80 Prozent der Einlagen in US-Dollar nicht auszahlen. Und so stehen Libanesen vor Geldautomaten, die ihnen ausschließlich zunehmend wertlose libanesische Pfund ausspucken.

 

US-Dollar sind im Libanon kaum noch zu bekommen. Das ist fatal für die importabhängige Privatwirtschaft. Die Importeure müssen mittlerweile sehr viel mehr libanesische Pfund bieten, um in US-Dollar einkaufen zu können. Höhere Kosten, die sie in Form höherer Verkaufspreise für Konsumgüter weiterreichen. Das erklärt die hohe Inflationsrate, während die Löhne stagnieren. Die Folge: Die Ausgaben des täglichen Bedarfs werden für viele Libanesen nahezu unerschwinglich.

 

Gleichzeitig ist die libanesische Wirtschaft sehr nachfrageorientiert. Das heißt, wenn die Kaufkraft einbricht, bricht auch der Umsatz vieler Geschäft ein, die als Reaktion ihre Angestellten entlassen. Bis zu 200.000 Libanesen sollen seit der Finanzkrise ihre Arbeit verloren haben – bei einer arbeitsfähigen Bevölkerung von gerade einer Million Menschen. Die Finanzkrise trifft besonders die libanesische Mittelschicht hart. Viele Libanesen mit mittlerem oder kleinem Einkommen hatten Konten in US-Dollar als Vorsorge angelegt – und sind nun verunsichert, weil sie nicht mehr an ihr Erspartes gelangen.

 

Es entsteht ein düsteres Bild: Vielen Libanesen fehlt eine sichere Vorsorge, sie verlieren ihre Arbeit und können sich immer weniger leisten. Gleichzeitig gehörten 98 Prozent der Dollardevisen, die vor der Krise abgezogen wurden, dem einen Prozent der reichsten Anleger. So ergibt sich im Libanon eine explosive Mischung aus extremer Ungleichverteilung und vielen leidenden Menschen.

 

Erschwerend kommt hinzu, dass der Staat in Schulden erstickt. Nicht nur hat er Probleme, seine Schulden in US-Dollar zu begleichen. Auch seine Schulden in libanesischen Pfund, etwa sechzig Prozent der ausgegebenen Staatsanleihen, kann er kaum finanzieren. Ein großer Teil dieser Anleihen liegt bei libanesischen Banken. Die würden angesichts der Krise ihre Staatsanleihen auch gerne abstoßen, doch der Staat kann die Kredite kaum bedienen.

 

Die Verbindlichkeiten sind derart in die Höhe geschnellt, dass der Libanon mittlerweile eines der am stärksten verschuldeten Ländern der Erde ist. Allein die Zinszahlungen verschlingen jährlich fast zehn Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung. Gleichzeitig ist der Staatshaushalt vor Zinsen, also das Primärsaldo, beinahe ausgeglichen. So nimmt der Libanon immer wieder neue Schulden auf, nur um die Zinsen der alten Schulden abzustottern.

 

Diese frischen Kredite kann das Land aber nur noch zu extrem hohen Zinsen aufnehmen, da das Vertrauen internationaler Geldgeber in den Libanon gelitten hat. Schwaches Wachstum, eine politische Krise, hohe Verschuldung und ein Banken-Sektor, der wegen der Krise weder leihen kann, noch will. Denn das Kapital der Banken ist gebunden in libanesischen Staatsanleihen, die der Staat nicht bedienen kann. Der Libanon kann also nicht mehr von seinen Banken leihen, da diese die eigenen, toxischen Staatsanleihen in der Bilanz stehen haben.

 

Wie geht es weiter?

Im Libanon treffen mehrere Krisen aufeinander: eine politische Krise, eine Finanzkrise, eine Wirtschaftskrise und eine Staatsschuldenkrise. Krisen, die sich teilweise gegenseitig bedingen und verstärken, deren tiefere Ursachen aber strukturell bedingt sind. Und so vermag keine Einzelmaßnahme die aktuelle Situation entschärfen – es bräuchte eine grundlegende Reform des politischen Systems.

 

Zur Bewältigung der Schuldenkrise schlägt der libanesische Ökonom Jad Chaaban einen Schuldenschnitt vor. Der Staat bekäme so wieder Luft zum Atmen. Durch den Schnitt könne sowohl der Druck der Gesamtverschuldung, als auch die Last der Zinszahlungen auf den Haushalt reduziert werden. Dadurch könne der Libanon wieder neue Schulden aufnehmen und auf einen geringeren Schuldendienst hoffen. Anstatt eines totalen Schnitts wäre auch eine Umschuldung der bestehenden Verbindlichkeiten möglich. In beiden Fällen würde der Staat wieder finanziellen Spielraum erhalten, um die Finanz- und Wirtschaftskrise anzugehen.

 

Da sich der Staat vor allem bei heimischen Banken verschuldet hat, müsste er mit diesen in Verhandlung treten. Eine Entwertung ihres Kapitals, also der libanesischen Staatsanleihen, könnte die Banken weiter destabilisieren und würde den gesamten Libanon herunterziehen, da der Finanzsektor etwa zwanzig Prozent zur libanesischen Wirtschaftskraft beiträgt.

 

Damit die Wirtschaftskrise abgefedert werden kann, bräuchte das Land dringend frische Devisen. Mit mehr US-Dollar im Land könnte die Wirtschaft wieder wie gewohnt importieren, was den Warenaustausch zum Laufen bringen würde. Aufgrund des Nachfragemodells der libanesischen Wirtschaft wären die Menschen aber auch auf ein verlässliches Einkommen angewiesen, um durch ihre Käufe die Wirtschaft wiederzubeleben. Dem macht die Corona-Krise einen Strich durch die Rechnung. Schließungen und Entlassungen machen eine regelmäßige Auszahlung von Löhnen unmöglich. Gleichzeitig können ein schwaches Sozialsystem und ein handlungsunfähiger Staat den Einkommensausfall kaum kompensieren.

 

Hier könnte wohl ein Programm des Internationalen Währungsfonds (IWF) Abhilfe schaffen, um US-Dollar zu günstigen Konditionen ins Land zu holen. Ein solcher Kredit wäre jedoch typischerweise an Reformen gekoppelt, an deren Umsetzung der Libanon in der Vergangenheit immer wieder scheiterte. Die Verhandlungen mit dem IWF haben zwar schon begonnen, doch gleichzeitig hängt noch ein altes, mehrere Milliarden US-Dollar schweres Paket der Finanzinstitution in der Schwebe, weil der Staat die an die Auszahlung geknüpften Reformen versäumt hat.

 

Letztlich bedarf auch der Finanzsektor einer strukturellen Reform, da er ein integraler Bestandteil der libanesischen Wirtschaft und ein Auslöser der Krise war. So schlägt der Analyst Brad Setser eine Umstrukturierung des libanesischen Bankensektors vor. Es sollten sogenannte Bad Banks geschaffen werden, in denen die toxischen Staatsanleihen deponiert werden. Die Schulden könnten so ohne größeren Verlust restrukturiert werden, mit langer Laufzeit und ohne Zinsen.

 

Dadurch würden die Privatbanken natürlich viel von ihrem Kapital in den Büchern einbüßen. Um einen ausreichenden Kapitalstock zu garantieren, damit Banken wieder abgesichertes Geld leihen können, schlägt Setser vor, die verbleibenden Privatbanken zu fusionieren. Denn auch der libanesische Ökonom Ishac Diwan warnt vor »Zombiebanken«, die mit wenig eigenem Kapital, also wenig eigenem Risiko, die Einlagen ihrer Kunden verzocken.

 

Zudem sieht Diwan die häufig vorgebrachte Forderung kritisch, die Dollarkonten zu »liralisieren«, also sie in libanesische Pfund umzuwandeln. Das würde zwar die Nachfrage nach US-Dollar zurückfahren, aber die Einlagen stark entwerten, da der offizielle gestützte Wechselkurs nicht den realen Verhältnissen entspricht. So könnten Libanesen mit Konten in US-Dollar gut die Hälfte ihrer Ersparnisse verlieren. Da solch eine Umwandlung alle Einlagen gleichermaßen betrifft, warnt Diwan vor katastrophalen Verteilungseffekten, durch die das Vermögen ärmerer Haushalte quasi verpuffen würde.

 

Während der Libanon bereits mit in Verhandlungen mit dem IWF steht, werden schon seit einiger Zeit weitere Optionen im Land diskutiert, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Etwa die Einforderung veruntreuter Gelder oder die Ausbeutung kürzlich entdeckter Öl- und Gasvorkommen vor der Küste des Landes. Valentina Finckenstein, Analystin der Konrad-Adenauer-Stiftung im Libanon, mahnt aber, sich keine falschen Hoffnungen zu machen. Die Zurückverfolgung veruntreuter Gelder sei angesichts politischer Blockaden und des libanesischen Bankgeheimnisses schwierig.

 

Und selbst im Erfolgsfall würden die wiedergewonnenen Summen kaum für die Bekämpfung der aktuellen Krise reichen. Auch die Aussicht auf Einnahmen aus den Öl- und Gasvorkommen würden wohl auf kurze Sicht nicht die nötigen Devisen ins Land bringen. Insbesondere angesichts der harten Konkurrenz auf dem Weltmarkt, der noch fehlenden Infrastruktur im Land, als auch des langen und unsicheren Prozesses, den die Erschließung erfordert. So hätten jüngste Bohrungen vor der Küste lediglich ein leeres Gasfeld zutage gefördert.

 

Für die nachhaltige Bekämpfung der Krise stimmt Finckenstein in den Kanon der internationalen Beobachter ein. Das Land brauche nachhaltiges Wirtschaftswachstum, das auch das Handelsdefizit reduzieren kann. Also den Aufbau einer produzierenden Wirtschaft, die nicht von Importen abhängig ist. Dafür brauche es aber Investitionen in Industrie, Landwirtschaft und Infrastruktur. Auch der hochgradig ineffiziente staatliche Energie- und Telekommunikationssektor müsse saniert werden.

 

Doch derart tiefgreifende ökonomische Veränderungen sind nicht denkbar ohne politische Reformen. In einer Studie zeichnen die libanesischen Ökonomen Mounir Mahmalat und Sami Atallah nach, wie stark der Privatsektor mit der Politik verwachsen ist. So verfügen 44 Prozent der Firmen mit mehr als 50 Mitarbeitern über einen direkten Draht zur Politik – zum Beispiel Vorstände, die eng mit Politikern befreundet sind. Das führt zu Begünstigungen, für die letztendlich alle Libanesen zahlen, etwa in Form von Steuervorteilen oder einem regressiven Steuersystem.

 

Auch KAS-Analystin Finckenstein fordert deshalb eine Steuerreform und eine Zerschlagung von Monopolen. Dies sei aber undenkbar ohne strukturelle Reformen. Nur transparente und unabhängige Institutionen könnten effektiv Korruption bekämpfen und nachhaltiges Wachstum schaffen. Wenn das nicht geschieht, werden die Banken wohl auch weiterhin brennen.

Von: 
Thabo Huntgeburth

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