Tunesien ringt um den richtigen Kurs in den Freihandel-Verhandlungen mit der EU. Nun trafen sich die Verhandlungsführer mit Kollegen aus Osteuropa – und entdecken ganz neue Handelsperspektiven.
Tunesien verhandelt seit 2015 mit der EU über eine intensivere wirtschaftliche Integration. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind hin- und hergerissen. Die einen sehen vor allem die Chancen, die eine vertiefte und umfassende Freihandelszone bietet, etwa, Modernisierung und Dynamik für die Wirtschaft, neue Arbeitsplätze und bessere und preiswertere Produkte für die Konsumenten. Andere fürchten, dass tunesische Unternehmen, Staatsbetriebe und Landwirtschaft unter der Marktöffnung oder wegen regulatorischer Anforderungen aus Brüssel leiden werden.
Preise und Staatsschulden steigen, die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch – sehr vielen Tunesiern ist bewusst, dass sich das Land reformieren muss, wirtschaftlich und sozial. Die Revolution hat die Debatte über den Reformkurs vertieft und verbreitert. Nun diskutiert das ganze Land das Für und Wider von Reformen und die Beziehungen zu Europa, vom Parlament über die Medien bis in die Zivilgesellschaft. Was ist der richtige Weg zu mehr Wohlstand für alle Tunesier?
Die Strategie der EU: Gesellschaftliche Öffnung und Modernisierung in den Ländern der EU-Nachbarschaft als Basis für Wohlstand, was wiederum Stabilität und Sicherheit auch für Europa bedeutet. Denn die wirtschaftliche Integration in den EU-Binnenmarkt bricht mit verkrusteten Wirtschaftsstrukturen und bietet den Ländern Chancen auf Investitionen, mehr Produktivität und Arbeitsplätze.
Für Deutschland ist Tunesien nach Südafrika auf dem Kontinent der zweitwichtigste Handelspartner
Die östlichen Nachbarn Georgien, Moldawien und die Ukraine haben diese Strategie für sich umgemünzt – trotz beziehungsweise gerade wegen ihrer schwierigen politischen und wirtschaftlichen Ausgangslage. Die frei gewählten Regierungen dieser Länder sehen in mehr Integration mit der EU vor allem die Chance, ihre Länder umfassend zu modernisieren und sich von Russland zu emanzipieren.
Ihre ersten Erfahrungen: Um international bestehen zu können, haben sie viel aufzuholen. Einige Firmen erwiesen sich als nicht überlebensfähig, Arbeitsplätze gingen verloren. Gleichzeitig zeigte sich, dass andere Wirtschaftszweige profitieren, neue Arbeitsplätze entstehen. Nicht nur die Handelsbilanz mit der EU entwickelt sich positiv. Insbesondere Georgien nutzt seine geografische Lage und damit verbundene Herausforderungen, um etwa für China und Indien als Hub in der Nähe Europas aufzusteigen.
Als Hub sieht Tunesien sich ebenfalls: für Europa nach Afrika. Über 70 Prozent des Im-/ Export-Geschäfts läuft mit der EU. Für Deutschland ist Tunesien nach Südafrika auf dem Kontinent der zweitwichtigste Handelspartner: 200 deutsche Firmen sind in Tunesien ansässig, unterhalten 60.000 Arbeitsplätze und erwirtschaften ein Handelsvolumen von jährlich 1,8 Milliarden Euro – leicht zu Gunsten von Tunesien.
Freihandel für Industrieprodukte mit der EU hat Tunesien seit 1995 Vorteile gebracht – solange die deutsche Autoindustrie boomt
Freihandel für Industrieprodukte mit der EU hat Tunesien seit 1995 Vorteile gebracht, wenn die deutsche Autoindustrie boomt, haben auch die in Tunesien ansässigen Zulieferer volle Auftragsbücher. Doch ist ein vertiefter und umfassender Freihandel mit allen Industrieprodukten, Landwirtschaft und Dienstleistungen auch vorteilhaft für Tunesien, mit dieser großen EU?
Warum also nicht diejenigen fragen, die schon Erfahrungen mit diesem im Fachjargon als DCFTA-Abkommen bekannten Arragement gesammelt haben? Im Juni brachten das Europa-Programm der Bertelsmann-Stiftung und die Deutsch-Tunesische Handelskammer eine Delegation aus drei ehemaligen Verhandlungsführern aus Georgien, Moldawien und der Ukraine sowie unabhängigen Experten aus Thinktanks der drei Länder nach Tunesien.
Die Praktiker und Fachleute teilten ihre Erfahrungen und Beobachtungen in Arbeitssitzungen mit Repräsentanten der Regierung und Vertretern der unterschiedlichen Verhandlungsteams, an runden Tischen mit der Zivilgesellschaft und zentralen Verbänden, etwa der Freien Berufe, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, sowie in öffentlichen Veranstaltungen in der Hauptstadt Tunis und der südlichen Hafenstadt Sfax.
Der Rat der Osteuropäer: Erst eine Vision für das eigene Land entwickeln
Georgien, Moldawien und die Ukraine sind ganz unterschiedliche Wege gegangen. Die Ukraine hat im letzten Jahrzehnt sogar zwei Revolutionen (2004 und 2014) hinter sich. Der Wirtschaft aller drei Länder ging es schlecht, etwa defizitären Staatsbetrieben in der Ukraine. Alle drei osteuropäischen Länder haben, so ihre Experten, keine EU-Beitrittsperspektive. Sie wollen sich aus der reinen Fokussierung auf Russland lösen und international stärker vernetzen.
In der engen wirtschaftlichen und rechtlichen Verflechtung mit der EU sahen die drei DCFTA-Staaten dennoch die Chance, wesentliche Strukturreformen in ihren Ländern voranzubringen. Sie nutzten dabei gezielt die von der EU angebotenen Möglichkeiten, etwa die Marktöffnung flexibel zu gestalten und für ausgesuchte Wirtschaftszweige Übergangszeiten zu vereinbaren. Insbesondere Regeln und Standards anzugleichen, kostet Zeit und Ressourcen. Die ökonomische Transformation ist schwierig, es gibt anfangs Mehrkosten, der Nutzen stellt sich erst mittel- und langfristig ein.
Die politische Führung sollte in einem offenen und intensiven Dialog mit der Gesellschaft und der Wirtschaft zunächst eigene Visionen für das Land und die einzelnen Wirtschaftssektoren entwickeln – und auf dieser Grundlage Reformen planen und umsetzen. Vertiefter und umfassender Freihandel und andere Formen der wirtschaftlichen Integration mit der EU sind kein Ersatz für eine eigene länderspezifische Reformstrategie und Handlungspläne. Beides ist aufeinander abzustimmen. Denn der Erfolg auch des bestverhandelten Abkommens hängt letztendlich von der Implementierung ab.
Nachbarschaft hilft Nachbarschaft – auch jenseits der EU?
»Jede Reform hat ihre Gewinner und ihre Verlierer«, meint Adrian Lupusor vom moldauischen Thinktank Expert-Grup in einem Gespräch mit den Tunesiern. »Es gilt, die potentiellen Verlierer zu identifizieren und ihre Kosten zu minimieren. Aber es muss unterschieden werden zwischen denen, die aufgrund struktureller Probleme nicht wettbewerbsfähig sind und jenen, die weiter ihre Partikularinteressen und Monopole schützen wollen, so der moldawische Wirtschaftsanalyst.
Beim Besuch eines tunesischen Familienbetriebes für Lebensmittelproduktion in Sfax debattieren die Osteuropäer mit Unternehmern und Angestellten über die Problematik von Exportquoten für Lebensmittel in die EU. Plötzlich schlägt der ukrainische Chefverhandler Valery Piatnitskyi den tunesischen Unternehmern vor: »Kauft Zucker aus der Ukraine und liefert uns euer wunderbares Olivenöl!«
Jenseits der Debatte um die besten bilateralen Wirtschaftsbeziehungen ihrer Länder mit der EU eröffnen die vielfältigen Treffen der osteuropäischen Delegationen mit ihren tunesischen Partnern auch eine ganz neue Perspektive: Warum nicht die gleichen EU-Standardregularien nutzen, um den Handel zwischen den Nachbarstaaten der EU anzukurbeln?
Diese Initiative wurde von der Osteuropa-Expertin Miriam Kosmehl und dem Nahost-Fachmann Christian Hanelt von der Bertelsmann Stiftung sowie der Tunesisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer in Tunis konzipiert und organisiert.