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Iranische Filmemacherinnen Negar Tahsili und Tina Gharavi

»Die Situation wird kippen«

Interview

Trotz sehr verschiedener Biografien sehen die Filmemacherinnen Negar Tahsili und Tina Gharavi Umbrüche im Iran. Zwei Interviews über die gesellschaftlichen Veränderungen, die ihre politischen Realitäten herausfordert.

Gerrit Wustmann im Gespräch mit der iranischen Filmemacherin Tina Gharavi, deren Spielfilmdebüt für den BAFTA Award nominiert war.

 

zenith: Frau Gharavi, nach der Islamischen Revolution gingen Sie ins Exil nach England und kehrten zwei Jahrzehnte später zurück. Was war der Anlass?

Tina Gharavi: Nach dreiundzwanzig Jahren im Exil kehrte ich nach Iran zurück, um meine Mutter zu treffen. Ich drehte einen Film mit dem Titel »Mother / Country«. Das war eine besonders emotionale Erfahrung: Ich dachte darüber nach, wie ich diese faszinierende Kultur verlassen hatte und dass Kinder von Migranten in gewisser Weise Kinder einer dritten Kultur sind. Sie sind weder »östlich« noch »westlich«, sondern irgendwie beides. Ich wollte die Geschichte der ersten Migrantengeneration erzählen. 2001 lud ich Einwanderer in mein Haus in England ein und sprach mit ihnen über ihre Erfahrungen. Die meisten waren geflüchtet und hatten hier Asyl gesucht. Die Exilerfahrung hat auf viele Menschen großen Einfluss, vor allem was die Themen Identität und Zugehörigkeit betrifft.

 

Und daraus entstand dann Ihr Film »I Am Nasrine«…

Der Charakter Nasrine ist eine Komposition der Geschichten vieler Frauen, mit denen ich acht Jahre lang gearbeitet habe, und auch mein eigener Background ist mit eingeflossen. Das Filmteam stellte ich ebenfalls schon 2001 zusammen, sodass alle am Schreibprozess teilhaben konnten. Viele Nuancen der Figur fügte Misha Sadeghi hinzu, die Nasrine spielt und ihr selbst sehr ähnlich ist.


Tina Gharavi

ist in Teheran geboren und lebt und arbeitet heute in England. Ihr erster Spielfilm »I Am Nasrine« wurde 2013 bei dem britischen BAFTA Awards in der Kategorie »Bester Debütfilm« nominiert.


 
Was wollen Sie mit dem Film bezwecken?

Mir war es wichtig, der Exilerfahrung ein menschliches Gesicht zu geben. Ich wollte vor allem jungen Menschen klarmachen, weshalb die Flüchtlinge nach England kommen und was sie durchmachen.

 

Inwiefern gibt der Film die derzeitige Situation der iranischen Gesellschaft wider?

Ich wollte einen Film über den wirklichen Iran schreiben, nicht das fiktive Land, das dem westlichen Publikum viel zu oft vorgesetzt wird. Iranische Filmemacher sind daran auch mitschuldig. Sie lassen Iran exotischer und romantischer erscheinen, als es das Land ist. Für mich ist Iran ziemlich normal. Ich wollte Stereotypen durchbrechen. Nicht jeder im Iran ist religiös oder arm. Die Teenager sind ihren westlichen Gegenparts in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Es geht um Vertreibung, um das Aufwachsen und die Selbstfindung in einer repressiven Gesellschaft.

 

»Exil kann traumatisch sein – aber auch neue Möglichkeiten eröffnen«

 

Nasrine steht stellvertretend für viele junge Frauen, die im Iran unter der Khamenei-Regierung aufwachsen. Sie kämpft nicht nur äußere, sondern auch innere Kämpfe…

Nasrine ist eine Außenseiterin in ihrem eigenen Zuhause. Sie ist eine Rebellin, die große Mühe hat, unter diesem repressiven Regime ihre eigene Identität zu entwickeln. Aber wie jeder Teenager will sie ihr Heimatland nicht verlassen. Alles was sie will ist, zu überleben und Luft zum Atmen zu haben. Und dann ist sie plötzlich im westlichen Exil. Dort wird sie in eine Schublade gesteckt und muss gegen eine Identität ankämpfen, die sie gar nicht für sich gewählt hat. Ali, ihr Bruder, nimmt die neue Situation als Möglichkeit, jemand anders zu sein, als er eigentlich ist. Die Erfahrung von Flucht und Exil hat große Auswirkungen auf die eigene Identität, sie kann traumatisch sein, aber sie kann auch neue Möglichkeiten eröffnen.

 

Die Arbeit an »I Am Nasrine« dauerte sieben Jahre – weshalb so lange?

Das lag an der Finanzierung. Es war sehr schwierig, diesen Film zu realisieren, das Skript fertigzustellen, viel mit Improvisation zu arbeiten, all die beteiligten Personen zu integrieren, im Iran zu drehen … von den Szenen mit den Pferden mal ganz abgesehen! Wir mussten die Arbeit mehrmals unterbrechen und erst Geld für die nächste Phase auftreiben. Unser Timing war schlecht, denn der »UK Film Council« stellte gerade seine Arbeit ein, als wir Fördermittel benötigten. Am Ende fanden wir private Geldgeber, die uns unterstützten.

 

Einen Teil des Films haben Sie im Iran ohne behördliche Genehmigung gedreht – führte das zu Problemen?

Dass wir keine wirkliche Drehgenehmigung hatten, setzte uns sehr unter Druck. Ich machte mir Sorgen, was mit den Schauspielern geschehen würde, wenn man uns festnehmen würde – einer war Brite und nur mit einem Touristenvisum im Land. Es war ein kalkuliertes Risiko, über das wir zuvor lange diskutiert hatten. Aber die Authentizität der Originalschauplätze war uns enorm wichtig. Wir hatten die Drehgenehmigung für einen anderen Film, der zur selben Zeit gedreht wurde und für den wir dort als »Second Unit Crew«, also unterstützender Filmstab, waren. Wenn uns die Polizei befragte, was zweimal geschah, sprang mein Regieassistent als Regisseur ein.

 

Als Sie die Aufnahmen außer Landes bringen wollten, wurden Sie beinahe verhaftet. Wie sind Sie aus dieser Situation herausgekommen? Immerhin waren die Sicherheitskräfte während der Proteste im Sommer 2009 besonders aufmerksam…

Ich hatte die Festplatten in meiner Handtasche. Als ich zum Flughafen kam, war ich müde und ausgelaugt. Ich hatte zu wenig über die Risiken nachgedacht. Gerade waren im Zuge der Proteste einige Journalisten verhaftet worden, und als die Polizei mich nach der Passkontrolle sprechen wollte, bekam ich Panik. Mein Glück war, dass die Beamten nur wenig Englisch sprachen und mein Farsi sehr schlecht ist. Weil die Kommunikation nicht funktionierte, winkten sie mich durch und schüttelten verwundert die Köpfe über eine Iranerin, die ihre Muttersprache nicht beherrscht. Erst als die Maschine gestartet war, wurde mir bewusst, dass ich es geschafft hatte. Aus jetziger Sicht hätte ich vorsichtiger sein müssen.

 

»Die Mittelklasse hat sich mit dem Status Quo abgefunden«

 

Sie waren während der Proteste der »Grünen Bewegung« nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Sommer 2009 im Iran. Was haben Sie dort erlebt?

Ich habe nicht selbst an den Protesten teilgenommen, obwohl ich es wollte. Während ich meine Mutter besuchte, wurde mir bewusst, weshalb die »Grüne Revolution« scheiterte: Weil vor allem die gut situierte Mittelklasse sich nicht beteiligte. Es waren die jungen Menschen, die protestierten, die sich nicht mit den bestehenden Verhältnissen abfinden wollten, aber die Mittelklasse wollte kein Risiko eingehen. Sie hatte sich mit dem Status Quo abgefunden.

 

Wie schätzen Sie die derzeitige politische Situation ein?

Ich mache mir große Sorgen. Iran scheint auf die nächste Revolution zu warten. Je aggressiver und restriktiver sich die Regierung verhält, desto frustrierter sind die Menschen. Die Kriegsdrohungen aus Israel und den USA beschwören eine desaströse Zukunft herauf. Die Sanktionen haben für eine sehr angespannte Situation gesorgt. Wir sind zweifellos kurz vor dem Endspiel. Einerseits möchte ich, dass das Regime verschwindet, andererseits ist mir der Schutz meiner Familie und Freunde im Iran wichtig. Viele Iraner haben Angst vor einer auswärtigen Intervention, seit sie gesehen haben, was im Irak und in Afghanistan geschehen ist. Aber für mich ist klar, dass die Situation kippen wird.

 

Friedrich Schulze sprach mit Negar Tahsili über authentische Kunst und warum Männer im Iran nicht weinen dürfen.

 

zenith: Frau Tahsili, Sie sagen, dass die gegenwärtige Kunst im Iran ihren Wert verliert und zu einem »Markt« geworden ist. Was meinen Sie damit?

Negar Tahsili: Mittlerweile ist der iranische Kunstmarkt relativ gesättigt. Die Künstler mussten sich umorientieren. Einige benutzen Stereotype über den Iran, um zu bekommen was sie wollen – und zwar Geld. Die Vorstellung von iranischer Kunst bei Christie‘s in Dubai oder Sotheby‘s in London hat sich in den letzten Jahren verändert. Zwar interessieren sich internationale Sammler sehr für iranische Kunst, doch sie wollen auch ihre Stereotype befriedigt sehen.


Negar Tahsili

hat Industriedesign studiert und lebt und arbeitet als Malerin, Videokünstlerin und Dokumentarfilmerin in Teheran.


 
Haben Sie ein Beispiel dafür?

Ich habe in diesem Jahr das Rotterdamer Filmfestival besucht. Für die Sonderkategorie »Spotlight on Iran« suchten die Veranstalter Filme und Videokunst, die nicht im Iran gezeigt werden konnten. Um die Filme zu präsentieren, bauten sie ein »iranisches« Teehaus mit Wasserpfeife und Tee neben dem Kino auf. Sie legten Perserteppiche und Sitzkissen aus. Es war alles so, wie man es in klischeebehafteten ethnologischen Ausstellungen sehen kann. Niemand fragte die Veranstalter, ob sie eine seriöse Iran-Sektion gestalten könnten. Die iranischen Künstler zeigten beschämt ihre Arbeiten und verschwanden dann schnell wieder.

 

»Die Künstler befriedigen Stereotype – um an Geld zu kommen«

 

Sie sind auch ein Teil der iranischen Künstlerszene. Wo verorten Sie sich in dieser Entwicklung, die Sie eben beschrieben haben?

Ich arbeite nicht, um irgendwelche Sammler aus Europa oder Amerika zu befriedigen. Das ist mir wichtig. Ich mache Filme über Künstler. Während der Arbeit am Projekt stelle ich ihnen viele Fragen über ihre Ideen und den Kunstmarkt. Manchmal bringe ich sie dadurch aus dem Konzept und helfe ihnen zu reflektieren. Nebenbei lehre und schreibe über Kunst und den Wert von Kunstobjekten.

 

Die zentrale Frage Ihres jüngsten Films »Rose and Nightingale« lautet: Was ist Geschlecht? War es Ihr Ziel, diese Frage zu beantworten – und haben Sie für sich selbst eine Antwort darauf gefunden?

Ich begann einen Film über meine Freunde zu drehen und stellte fest, dass sie eigentlich alle am selben Thema arbeiteten – Was ist Geschlecht? Dann fokussierte ich meinen Film auf diese Frage und stellte selbst Nachforschungen zu dem Thema an. Nach fünf Jahren Recherche weiß ich, dass sich viele Menschen weltweit diese Frage stellen. Weder dieser noch irgendein anderer Film kann alle Fragen zum Thema Geschlecht beantworten. Aber zumindest zeigt der Film, dass viele sich mit dieser Frage auseinandersetzen. Das Konzept des Filmes ist dabei vergleichbar zu dem Chaos des Individuums, das über Geschlechtsidentitäten und Vorteile von Geschlechtern nachdenkt.   

 

Eine Szene in Ihrem Film spielt in einem Ausstellungsraum. Man sieht eine Gruppe von Besuchern, die mit Luftgewehren auf einen Mann schießen. Sie sagten, dass Frauen genau wie Männer auf den Mann feuern. Es gab keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern bezüglich der Gewalt...

Während dieser Performance des Künstlers Amir Mobed gab es keine Gegensätze zwischen Mann und Frau. Mobed dachte vor der Performance, dass keiner abdrücken würde. Schließlich stand da ein lebendiger Mensch und keine Puppe. Doch es zeigte sich, dass jeder schoss.

 

Doch gleichzeitig sagten Sie auch, dass es Unterschiede gäbe. Wie ist Ihr Blick auf die iranische Gesellschaft, wie verändert sich das Verhältnis zwischen Mann und Frau?

Wir sind im Wandel. Ich denke, dass wir im Iran gerade von einer traditionellen zu einer zeitgemäßen Denkweise übergehen. Aber das passiert sehr schnell! Wir haben uns schon verändert. Die Art, wie die Menschen über ihren Lebenswandel, die Rolle von Mann und Frau, und damit auch ihre Geschlechteridentität denken, hat sich in der letzten Generation stark verändert. Trotz allem müssen Männer vorsichtig sein und können ihre Gefühle nicht wirklich ausdrücken. Vielleicht ist das im Iran noch stärker als anderswo. Männer weinen eben nicht!

Von: 
Friedrich Schulze und Gerrit Wustmann

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