Kaum einen Ort in Beirut hat die Explosion Anfang August so stark beschädigt wie Mar Mikhael und Gemmayze. Experten prüfen nun, ob die historischen Gebäude in den beiden Stadtvierteln noch zu retten sind.
Von dem Gebäude am Ende der Rue Gouraud im Beiruter Stadtteil Gemmayze ist nicht mehr viel übrig. Bis zum 4. August befand sich hier das Büro von Bechara Gholam – jetzt ist nur noch ein Teil des Erdgeschosses intakt, die darüber liegenden Stockwerke sind kollabiert. Hier, in diesem Haus, wurde auch Gholams Vater geboren. Er wurde 107 Jahre alt.
Ein Monat nach der Explosion im Hafen von Beirut sind Freiwillige noch immer damit beschäftigt, die Trümmer um das Haus der Familie Gholam aufzuräumen. Die Stadtviertel Mar Mikhael und Gemmayze gehören zu den am stärksten betroffenen Orten der libanesischen Hauptstadt. Nun ist es an den Architekten, zu beurteilen, wie groß die Zerstörung tatsächlich ist.
Die Bewohner der Straßen trauern um ihre Heimat, in der sich lange Industrie, Antike und Bohème vermischten. Sie sorgen sich, dass Beirut einen weiteren Teil seines historischen Erbes verliert, ihnen geraubt wird.
Die am stärksten beschädigten Häuser sind Teil der roten Zone, zur blauen Zone gehören jene Gebäude, die die Druckwelle verschont hat.
Seit seiner Errichtung vor 160 Jahren hat das Haus der Gholans zwei Weltkriege, einen Bürgerkrieg und die lange Ära des wirtschaftlichen Niedergangs erlebt. Die Explosion zerriss ein Haus, das älter ist als der moderne Libanon. »Mein Bruder brach sich inmitten der Zerstörung den Arm, seine Frau und Kinder erlitten leichte Verletzungen«, erinnert sich Bechara Gholam im Gespräch mit zenith. Das Gebäude bestand aus vier Wohnungen, in denen 15 Menschen gelebt hatten.
Und das Haus der Gholams ist nicht das einzige architektonische Opfer in der Nachbarschaft. Auch die angrenzenden Gebäude wurden in Schutt und Asche gelegt, dazu sechs weitere Häuser in umliegenden Straßen. Alle stammen aus der Zeit vor der Gründung des heutigen Libanon, Stein gewordene Erinnerung an jene Tage: Wände aus Sandstein, mit drei Bögen versehene Fassaden und rote Ziegel auf dem Dach. Ein Stil, der aus den Vierteln Beiruts zunehmend verschwindet. Geblieben sind Überreste, etwa wenige hundert Meter vom Haus der Gholams entfernt. Das Dach zerbrochen, der Balkon abgefallen und dem Erdboden gleichgemacht.
»Wir haben jahrelang versucht, diese Gebäude zu erhalten«, berichtet der Architekt Fadlallah Dagher zenith. Dagher arbeitet in der Generaldirektion für Altertum und leitet eine Expertengruppe aus Architekten und NGOs, die sich mit dem architektonischen Erbe der Stadt befassen. Sie sollen nun die Schäden der Explosion bewerten und haben dazu am 28. August die »Beirut Heritage Initiative« gestartet. Sie bezeichnen sich selbst als » unabhängige und integrative Gruppe [...], die sich für die Wiederherstellung des architektonischen und kulturellen Erbes Beiruts einsetzt«.
Die Inspektion der Schäden wird von Sicherungsmaßnahmen flankiert. Dazu wurden die von der Explosion betroffenen Gebäude in verschiedene Gruppen eingeteilt. Die am stärksten beschädigten Häuser sind Teil der roten Zone, zur blauen Zone gehören jene Gebäude, die die Druckwelle verschont hat. »Bisher haben wir 305 historische Gebäude in der roten Zone von Mar Mikhael und Gemmayze, sowie 250 Gebäude in der blauen Zone einige Blöcke weiter hinten inspiziert«, sagt Dagher und betont, dass trotz aller Bemühungen nach wie vor Gefahr besteht: »40 weitere Gebäude sind vom Einsturz bedroht, insgesamt 300 weitere sind beschädigt, bergen aber zumindest keine strukturellen Risiken.«
Es ist kein Zufall, dass Beiruts prächtigste Architektur rund um den Hafen in Vierteln wie Mar Mikhael und Gemmayze entstand.
Im Libanon sind viele historische Gebäude in keinem guten Zustand. Anders sah das bis vor kurzem in den relativ wohlhabenden Vierteln Mar Mikhael und Gemmayze aus. Doch die Wucht der Explosion hat das geändert. »Wir arbeiten daran, einsturzgefährdete Gebäude mit provisorischen Konstruktionen zu stützen und decken die Dächer, bevor der Winter kommt«, sagt Dagher. »Wir geben Gebäuden, die die Struktur des Viertels erhalten können, den Vorrang. Denn wir wollen ganze Stadtviertel retten, nicht nur einzelne Gebäude.«
Es ist kein Zufall, dass Beiruts prächtigste Architektur rund um den Hafen in Vierteln wie Mar Mikhael und Gemmayze entstand, wie die Architektin und Denkmalpflegerin Mayssa Jallad erklärt: »Viele Gebäude wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut, inspiriert von den im venezianischen Stil errichteten Locandas (Hotels) mit den dreifachen Bögen.« Doch so schön anzuschauen der Dreifachbogen ist, er bildet eine Lücke in der Fassade und somit einen Schwachpunkt in der Konstruktion. Nicht dazu gemacht, den Folgen einer Explosion standzuhalten, wie die, die Beirut erschüttert hat.
Der Architekt Dagher spricht von einem »Luft-Tsunami«, der die Balken, auf denen die Hauswände ruhten, zerbrechen ließ. Auch die Dächer gaben der Explosion nach, die die Seismografen als Erdbeben der Stärke 3,3 registrierten. Typischerweise werden die roten Dachziegel auf Holz- oder Stahlsparren verlegt. Sogar in Gebäuden, die nur oberflächliche Schäden aufzeigten, fand man nun bei der Inspektion Risse an den Stellen, wo sie die Wände berühren.
Die zwölf Zentimeter dicken Blöcke werden in der Regel durch eine Mischung aus Sand, Kalk und Lehm an ihrem Platz gehalten. Durch fehlende Beton- oder Metallträger waren diese Gebäude nicht stark genug, um dem »Tsunami« standzuhalten. Als es die Wände schüttelte, der Untergrund aber starr und unbeweglich blieb, fielen sie in sich zusammen oder bekamen Risse. »Der Krieg war schon schlecht für diese Gebäude«, fasst Architekt Antoine Atallah zusammen, der sich als Aktivist für die Erhaltung der historischen Bausubstanz einsetzt. »Aber der Krieg hat immerhin nicht 300 Gebäude auf einmal beschädigt.«
Die Ruinen der bereits vor der Explosion baufälligen Häuser locken nun Immobilien-Spekulanten an.
»Das Kulturerbe kann ohne die Menschen nicht existieren«, glaubt Denkmalpflegerin Jallad. »Wir haben bereits einen Teil der Bevölkerung dieser Viertel durch die Gentrifizierung verloren, als die Kneipen eröffnet wurden. Es zerreißt mir das Herz, zu sehen, wie eine zweite Welle ehemaliger Bewohner nun fortzieht.« Bereits in den letzten zehn Jahren waren Menschen wegen des Lärms und der steigenden Lebenshaltungskosten aus dem Viertel fortgezogen. Mar Mikhael entwickelte sich zum Zentrum für Bars und Cafés und nur noch die Handwerksbetriebe und Werkstätten verweisen auf die Vergangenheit des Viertels am Rande des Hafens.
Der Abriss einer verlassenen Brauerei war eines der deutlichsten Symbole für die Veränderung des Viertels. Sie wurde ersetzt durch einen modernen, raumschiffartigen Turm, gestaltet vom berühmten Architekten Bernard Khoury. Auch andere bekannte Baumeister haben der Gegend ihren Stempel aufgedrückt, etwa der Franzose Jean-Marc Bonfils. Der von ihm gestaltete Wohnblock umfasste eine Galerie im Erdgeschoss und erweiterte die traditionelle Holz- und Steinverkleidung um einen vertikalen Garten.
Ausgerechnet diese neuen Gebäude haben sich als widerstandsfähig erwiesen und das Inferno einigermaßen überstanden. Die Ruinen der bereits vor der Explosion baufälligen Häuser locken nun Immobilien-Spekulanten an, die auf gute Geschäfte hoffen.
Nach der Explosion bekam Fady Farah Besuch, der Vermieter seiner Wohnung in Mar Mikhael hatte einen Polizisten im Schlepptau und erklärte, Farah sei in dem Haus nicht mehr sicher. »Der Vermieter sucht immer nach einem Vorwand, uns fortzujagen, weil wir eine niedrige Miete zahlen. Er sagte, das Gebäude werde einstürzen, aber ein von uns beauftragter Ingenieur hatte es bereits inspiziert und uns gesagt, es sei sicher.« Farahs Familie weigerte sich zu gehen. Solche Geschichten machen nun in Mar Mikhael und Gemmayze die Runde und so wächst die Sorge vor »Solidère 2«.
»Wir hätten den ganzen Schutt liegen lassen und den Staat aufräumen lassen sollen«
Nach dem Ende des Bürgerkriegs 1992 plante der damalige Premierminister Rafik Hariri den Wiederaufbau von Beiruts Innenstadt. Dazu gründete er die Entwicklungsgesellschaft Solidère, eine Kooperation des Staates und privater Unternehmen. Mit dem Mandat der Regierung ausgestattet, trieb sie den Wiederaufbau des Stadtkerns voran, kaufte aggressiv Häuser und Grundstücke auf und vertrieb die bisherigen Mieter und Eigentümer.
Viele alte Gebäude überlebten die Modernisierung nicht. Während einige tatsächlich rekonstruiert wurden, verschwanden andere unter neumodischen Strukturen wie einem gigantischen Einkaufszentrum. Das Herz der Hauptstadt, so fühlten viele Anwohner, sei durch Solidère zum reinen Kommerz verkommen, viel zu teuer für die dort lebenden Menschen.
Antoine Lawandos, dessen Werkstatt in Mar Mikhael schwer beschädigt wurde, befürchtet, dass sich diese Geschichte wiederholen könnte. »Es könnte erneut so kommen, wie damals, als Solidère die Stadt aus Trümmern wieder aufgebaut hat. Wir vergessen zu schnell.«
Auch Yves Khoury, Mitbesitzer einer Bar und eines Restaurants, zieht Parallelen. »Wir hätten den ganzen Schutt liegen lassen und den Staat aufräumen lassen sollen. Damals haben sie unsere Erinnerungen an den Krieg ausgelöscht und jetzt werden sie Mar Mikhael platt machen.«
Klar ist: Der Wiederaufbau wird Zeit und Geld kosten – von beidem hat der Libanon nicht genug. Das Land ist in Aufruhr, Grundnahrungsmittel und Medikamente kaum verfügbar. Strenge Kapitalauflagen waren im vergangenen Herbst eingeführt worden, um die Hyperinflation zu bekämpfen und nun machen sie es unmöglich, die für den Wiederaufbau benötigten Materialien zu importieren.
Solange der Staat keinen offiziellen Bericht über die Ursache der Explosion veröffentlicht, wollen die Versicherungen nicht zahlen.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich viele Versicherungsgesellschaften weigern, die Schäden zu begleichen. Solange der Staat keinen offiziellen Bericht über die Ursache der Explosion veröffentlicht, wollen sie nicht zahlen. Die Hausbesitzer sind damit auf internationale Spenden und die Hilfe von Freiwilligen angewiesen.
Architekt Dagher glaubt an die Macht der Bevölkerung: »Wenn der Staat gescheitert ist, sollte die Zivilgesellschaft den Wiederaufbaus in die Hand nehmen.« Er befürchtet jedoch, dass Mitglieder des politischen Establishments versuchen werden, vom Unglück ihrer Bürger zu profitieren: »Wir erwarten, dass uns viele Steine in den Weg gelegt werden.«
Seit sein Haus zerstört wurde, ist Bechara Gholam mit Hilfe seiner Tochter in eine leere Galerie ein paar Blocks weiter gezogen. Gholam, der seit fast 40 Jahren gewählter Kommunalbeamter ist, kann jetzt nicht aufhören, zu arbeiten. Sein Schreibtisch quillt über vor Hunderten von Bürgeranfragen. Er erzählt zenith, dass ihm der Wiederaufbau seines Hauses versprochen wurde. Von wem dieses Versprechen kam, daran kann er sich nicht erinnern. Er bezweifelt ohnehin, dass es eingehalten wird.
In der Zwischenzeit haben seine Verwandten in Los Angeles eine Spendenkampagne für den Wiederaufbau seiner Wohnung gestartet. Über 10.000 US-Dollar sind bereits zusammengekommen, 25.000 benötigt er. »Was können wir tun?« fragt er. »Meine Familie lebt seit so vielen Jahren in diesem Haus. Wir müssen es wieder aufbauen. Es gibt keine andere Möglichkeit.«