Lesezeit: 12 Minuten
Kinder tunesischer Dschihadisten in Libyen

Tunesiens vergessene IS-Kinder

Feature
Kinder tunesischer Dschihadisten in Libyen
Foto: Sebastian Backhaus

Dutzende Kinder von tunesischen IS-Kämpfern sitzen in libyschen Gefängnissen. Angehörige, Anwälte und Abgeordnete setzen sich für ihre Rückführung ein – doch das Thema birgt politischen Sprengstoff.

Bereits im Februar 2016 flogen US-Kriegsflugzeuge Luftangriffe auf eine Militärbasis des so genannten Islamischen Staates (IS) außerhalb der westlibyschen Stadt Sabrata, die sich gegen den Tunesier Noureddine Chouchane richteten, der mit zwei Terroranschlägen im Jahr 2015 in Tunesien in Verbindung stand: dem Angriff auf das Bardo-Museum in Tunis sowie auf einen Strandabschnitt im Badeort Sousse. Tunesische Ermittler hatten zuvor bekanntgegeben, dass die IS-Kämpfer, die für die Anschläge verantwortlich waren, in Libyen ausgebildet worden waren.

 

Die Luftschläge in der Nähe von Sabrata, etwa 130 Kilometer von der tunesischen Grenze entfernt, töteten nach Angaben der Behörden vor Ort mehr als 40 Menschen, darunter viele Tunesier, die der Zugehörigkeit zum IS verdächtigt werden. Im Schutt des Trainingslagers wurden nach Angaben der Lokalverwaltung Maschinengewehre und Panzerfäuste gefunden.

 

Als die tunesischen Behörden mit ihren libyschen Kollegen das zerstörte IS-Lager untersuchten, stießen sie auf ein einjähriges Waisenkind. Die tunesischen Eltern von Tamim Jendoubi waren beide IS-Mitglieder und beim Luftschlag ums Leben gekommen. Mehrere Kinder, die entweder von tunesischen IS-Kämpfern gezeugt oder von ihren Eltern in das vom IS kontrollierte Territorium in Libyen gebracht wurden, überlebten den Luftangriff und wurden zunächst interniert.

 

Mindestens 39 tunesische Minderjährige befinden sich in libyscher Haft

 

Für Mustafa Abdel Kebir, Leiter der tunesischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, war der Vorfall Anlass genug, um die Situation dieser Kinder genau zu verfolgen. »70 Prozent dieser inhaftierten Kinder wurden in Libyen geboren, praktisch auf dem Schlachtfeld«, schätzt er. »Sie waren noch nie in Tunesien, haben keinen Kontakt mit ihren Verwandten dort.«

 

Mindestens 39 bestätigte Fälle gebe es, so der Menschenrechtsanwalt, für tunesische Minderjährige in libyscher Haft. Die meisten sitzen im Mitiga-Gefängnis in Tripolis ein, der Rest in Misrata und Sabrata. 26 Kinder sind laut seinen Nachforschungen mit ihren Müttern inhaftiert, der Rest sind Vollwaisen. Ihr Alter reiche von zwei bis 16 Jahren, aber die meisten von ihnen seien zwischen 5 und 12 Jahre alt, schätzt Abdel Kebir.

 

»Diese Kinder gehören in die Schule, in ein Zuhause, auf den Spielplatz – aber nicht ins Gefängnis«, sagt Abdel Kebir, der sich seit 2016 für ihre Repatriierung von Kindern tunesischer IS-Kämpfer in Libyen einsetzt und oft zwischen beiden Ländern hin- und herpendelt.

 

Auch Khawla Ben Aicha beschäftigte sich mit dem Schicksal inhaftierter tunesischer Kinder, seitdem des »Rettungsverbands der im Ausland festsitzender Tunesier« (RATTA) vor drei Jahren auf die Abgeordnete der Partei Machrouu Tounes zukam. Die NGO setzt sich für die sichere Rückkehr von Familien und Kindern aus Konfliktgebieten ein. Die Familienangehörigen von in Libyen festgehaltenen Kindern wandten sich an die Politikerin, weil Khawla Ben Aicha Mitglied im Ausschuss für die Belange von Auslandstunesiern ist. In dieser Funktion kann sie an die Regierung appellieren, rasche Rückführungsverfahren einzuführen.

 

Neben Libyen sind tunesische Kinder auch in Syrien und Irak interniert

 

Die Abgeordnete betont, dass es dringend notwendig sei, die Jugendlichen so schnell wie möglich nach Hause zu bringen und zu integrieren: »Diese Kinder kennen den Krieg und das Gefängnis, ihnen wurden die elementarsten Rechte verweigert. Meiner Meinung nach ist jeder Tag, der ihre Rückkehr verzögert, ein verlorener Tag auf ihrem Weg zurück in ein normales Leben«.

 

Das hat auch mit den Lebensbedingungen in libyschen Gefängnissen zu tun. Ein im Februar 2019 veröffentlichter Bericht von Human Rights Watch (HRW) spricht von »überfüllten Gefängniszellen« und »akutem Mangel an Nahrung, Kleidung und Medikamenten«. Die Gefängnisse verkaufen zwar Lebensmittel, aber zu exorbitanten Preisen. Der Bericht führt mehrere Aussagen von Familienangehörigen an, die Fälle von Gewalt an Müttern und Kindern im Gefängnis Al-Jawiyah in Misrata überlieferten. Zudem hätten sich »einige Häftlinge, einschließlich Kinder, zurückgezogen und sprachen davon, sich das Leben nehmen zu wollen«.

 

Angesichts der neuen Eskalation im Bürgerkrieg seit Frühjahr 2019 verschlechtern sich die Bedingungen in den Gefängnissen tagtäglich, warnt Letta Tayler, die Autorin des Berichts, im Gespräch mit zenith. Die wiederentfachten Kämpfe würden weitere Traumata für die ohnehin traumatisierten Mütter und Kinder zeitigen.

 

Nicht nur in Libyen sitzen tunesische Kinder von Dschihadisten hinter Gittern. Insgesamt 200 Kinder und 100 Frauen tunesischer Nationalität sind nach Angaben des tunesischen Familienministeriums zurzeit als IS-Angehörige in ausländischer Haft registriert. Neben Libyen sind die meisten von ihnen in Syrien und Irak inhaftiert.

 

Die tunesischen Behörden haben Bedenken, mit libyschen Milizen in Verhandlungen zu treten – schließlich käme das einer Anerkennung territorialer Kontrolle vor Ort gleich

 

Tunesien hat mehreren Schätzungen zufolge eine der weltweit höchsten Pro-Kopf-Raten von Staatsangehörigen, die im Ausland dem IS angehören. Tunesische Beamte schätzen die Zahl der Tunesier, die das Land verlassen haben, um sich dschihadistischen Gruppen anzuschließen, auf 3.000, andere Quellen berichten von mehr als 6.000, darunter 1.000 Frauen. Bis zu 1.500 Tunesier kämpfen wohl in Libyen.

 

Während andere Länder bei der Rückführung von Kindern von IS-Mitgliedern Fortschritte erzielen, tut sich in Tunesien wenig. Seit April 2017 hat die tunesische Regierung dank des Drucks der tunesischen Angehörigen immerhin drei Delegationen nach Libyen entsandt. Die Verhandlungen führten im Oktober 2017 zur Rückführung von Tamim Jendoubi und zwei weiteren Kleinkindern Ende 2018.

 

Tamim Jendoubi war im Mitiga-Gefängnis unter der Kontrolle der islamistischen Miliz »Sonderabschreckungskräfte« (RADA). RADA gehört zu den Milizen, die offiziell der Regierung von Premier Fayez Al-Serraj unterstehen, de facto aber auf eigene Rechnung operieren und eher die Regierung vor sich hertreibt. gefangen gehalten worden und kam erst frei, nachdem sein Großvater viermal nach Libyen gereist war, um das Kleinkind nach Hause zu bringen. Im Fall der anderen Kleinkinder hatten deren Familien einen libyschen Anwalt beauftragt, mit den Behörden zu verhandeln. Doch trotz Verhandlungen mit höchsten Regierungsvertretern kamen nur zwei Kleinkinder frei, der Rest sitzt weiter in libyschen Gefängnissen.

 

Khawla Ben Aicha hat eine Erklärung für die zögerliche Haltung der tunesischen Behörden: Denn die hätten oft Bedenken, mit Milizen in Verhandlungen zu treten – schließlich käme das einer Anerkennung territorialer Kontrolle vor Ort gleich.

 

»Die Regierung in Tripolis hat keine Kontrolle über solche Haftanstalten hat, so dass sie nicht eingreifen kann«

 

»Die Regierung in Tripolis hat keine Kontrolle über solche Haftanstalten hat, so dass sie nicht eingreifen kann.« Die Abgeordnete drängt dennoch auf schnelle Rückführungen: »Ich finde, dass das Schicksal der Minderjährigen in libyschen Gefängnissen dringend angegangen werden muss. Deswegen sollte unsere Regierung sich mit allen Akteuren vor Ort auseinandersetzen, um sicherzustellen, dass die Kinder sicher nach Hause gebracht werden.« Auch die RADA-Miliz drängt auf eine Lösung – und macht die tunesische Seite für das stockende Verhandlungstempo verantwortlich. Zudem hat die Miliz mehrfach angedroht, die Kinder auf die Straße zu werfen, sollte sie für deren Unterbringung nicht angemessen bezahlt werden.

 

Im Januar 2019 besuchte eine tunesische Delegation die Niederlassung des libyschen Roten Halbmonds in Misrata, um per DNA-Test die Identität von sechs Waisenkindern zu überprüfen. Doch obwohl sich alle Kinder als tunesische Staatsbürger entpuppten und die tunesischen Behörden ihre Rückführung eigentlich genehmigt hat, lässt die Umsetzung auf sich warten.

 

Tayler sieht die tunesischen Behörden in der Pflicht: »Was fehlt, ist der politische Wille«, sagt die HRW-Expertin. Ein Streitpunkt dabei sind die Mütter: Denn bislang ist Tunesien lediglich bereit, die Kinder von IS-Kämpfern zurückzuholen – die Frauen dagegen stellen aus Sicht des Staates ein Sicherheitsrisiko dar. Libyen dagegen pocht darauf, wenn schon, dann alle tunesischen IS-Angehörigen abzuschieben.

 

Die Abgeordnete Ben Aicha plädiert dafür, das Hauptaugenmerk auf die Kinder zu legen – auch wenn das bedeutet, den Müttern das Sorgerecht zu entziehen

 

Die Abgeordnete Ben Aicha will das potenzielle Sicherheitsrisiko nicht als Argument gegen die weitere Verschleppung der Rückführung gelten lassen. Schließlich könnten diese Frauen nach der Rückführung im Einklang mit rechtstaatlichen Standards gegebenenfalls überwacht oder vor Gericht gestellt werden. Ben Aicha plädiert dafür, das Hauptaugenmerk auf die Kinder zu legen – auch wenn das bedeutet, den Müttern das Sorgerecht zu entziehen und die Kinder bei Verwandten in Tunesien unterzubringen. »Diese kleinen Kinder haben sich nicht ausgesucht, wer ihre ihrer Eltern sind, oder in einem Konfliktgebiet oder gar im Gefängnis geboren zu werden. Die Regierung muss alles tun, um sie da rauszuholen.«

 

Menschenrechtsanwalt Abdel Kadir gibt jedoch zu bedenken, auch die Lage der Frauen differenzierter zu betrachten. Viele von ihnen befürchten, im Gefängnis vergessen zu werden, sobald ihre Kinder nach Tunesien zurückgeführt würden. Zudem, so Abdel Kadir, hätten ihm einige der Frauen in libyschen Gefängnissen bedeutet, gegen ihren Willen von ihren IS-Ehemännern festgehalten worden zu sein. Andere hätten ausgesagt, nicht gewusst zu haben, dass ihre Männer für den IS gekämpft hatten.

 

Abdel Kebir kritisiert sowohl die tunesische wie die libysche Seite für den Umgang mit dem sensiblen Thema. »Es geht hier Minderjährige, und doch wird das Thema politisch instrumentalisiert.«

Von: 
Alessandra Bajec

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.