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Tataren in der Wehrmacht

»Fast die Hälfte ist zu den Partisanen übergelaufen«

Interview
von Leo Wigger
Tataren in der Wehrmacht
Sowjetische Freiwillige in der Wehrmacht marschieren an deutschen Offizieren vorbei. Bundesarchiv

Tausende muslimische Tataren kämpften gemeinsam mit der Wehrmacht gegen die Sowjetunion. Der Historiker Iskander Gilyazov über die muslimische Legion Idel-Ural, Tabus, und den wechselvollen Umgang mit Nationalhelden und Kollaborateuren.

zenith: Wie Sind Sie darauf gekommen, sich mit den tatarischen Einheiten der Wehrmacht auseinanderzusetzen?

Iskander Gilyazov: Die Geschichte der sogenannten Ostlegionen, beziehungsweise der wolga-tatarischen Legion Idel-Ural war für uns in der Sowjetzeit tabu. Denn die dominierende Vorstellung in der sowjetischen Geschichtswissenschaft war: Es gab keine sowjetischen Kollaborateure, es gab nur Verräter. Und natürlich lohnt es sich nicht, die Verräter zu erforschen. Deshalb waren die Soldaten aus der Sowjetunion, die für die Wehrmacht kämpften, keine Problematik, mit der sich die sowjetische Geschichtswissenschaft beschäftigen wollte. Wir in der Sowjetunion haben nur Helden erforscht. Was sonst passierte, auf der anderen Seite also, war für uns weder Gesprächs- noch Forschungsthema oder auch nur der Erwähnung wert. Aber natürlich wussten wir es eigentlich besser.

 

Wann änderte sich das?

Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion kam es zur Öffnung auch solcher tabuisierten Themengebiete. Deshalb konnte ich auch erst 1990 nach Deutschland kommen, an die Universität zu Köln, um über die Tataren in der Wehrmacht zu forschen.

 

Aber auch in Deutschland wissen die Menschen kaum Bescheid über die Idel-Ural-Legion der Wehrmacht. Was hat es damit auf sich?

Die tatarische Idel-Ural-Legion war Teil einer großen politischen und militärischen Unternehmung der Wehrmacht und von Politikern der NSDAP. Sie haben die sogenannten Ostlegionen geschaffen, um zu zeigen, dass die Turkvölker und die muslimischen Völker der Sowjetunion, eigentlich Gegner von Russland, beziehungsweise Gegner der Bolschewisten sind. Die große Hoffnung war, dass diese turk-muslimischen Völker der Sowjetunion Verbündete sein könnten im Kampf gegen den Bolschewismus. Aber in Wirklichkeit war das nur ein Spiel. Die deutschen Militärs haben ganz offen gesagt, dass man deutsches Blut schonen wollte.

 

Welche militärische Rolle spielte die Legion denn für die Wehrmacht?

Eigentlich keine. Das erste Bataillon der Idel-Ural-Legion wurde im Februar 1943 ganz pompös nach Weißrussland geschickt, um gegen Partisanen (Anm. der Redaktion: Widerstandskämpfer gegen die Nazis) zu kämpfen. Aber bereits in den ersten Tagen haben diese Legionäre Kontakte mit weißrussischen Partisanen aufgebaut und bereits am 23. Februar einen Aufstand begonnen. Von Anfang an arbeitete eine illegale, kommunistische Gruppe in der Legion, die den Aufstand vorbereitete. Fast die Hälfte des Bataillons ist zu den weißrussischen Partisanen übergelaufen.

 

»Alle sowjetischen Soldaten sollten bis zum Tode kämpfen«

 

Was war denn überhaupt die ursprüngliche Motivation der Tataren, an der Seite der Wehrmacht zu kämpfen?

Hierzu vorab erstmal eine erstaunliche Zahl: Insgesamt gab es eine Million Kollaborateure aus den Völkern der Sowjetunion. Bezogen auf die militärische Kollaboration mit der Wehrmacht kann ich sagen, dass insgesamt etwa 20.000 Tataren dabei waren. Insgesamt kommen wir auf um die 100.000 Soldaten aus den mittelasiatischen Völkern, wenn wir noch beispielsweise den Nord-Kaukasus, Armenien und Georgien hinzunehmen. Wenn wir über die Motivation all dieser Menschen sprechen, müssen wir ihre sehr, sehr komplizierte Situation miteinbeziehen.

 

Was heißt das?

Da war einmal die Position der Sowjetunion. Stalins offizielle Aussage war: Wir haben keine Kriegsgefangenen. Wir haben nur Verräter. Das heißt: Alle sowjetischen Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft gekommen sind, galten als Verräter. Sie wurden somit von ihrem eigenen Land verstoßen und konnten nicht mehr auf Schutz hoffen. Wenn sie es wieder nach Hause schafften, mussten sie damit rechnen, dass sie bestraft werden – und ihre Familienangehörigen ebenfalls. Damit sollten sie unter Druck stehen, zu kämpfen. Alle sowjetischen Soldaten sollten bis zum Tode kämpfen.

 

Trotzdem landeten im Laufe des Krieges viele sowjetische Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft.

Ja, fast sechs Millionen. Können Sie sich das vorstellen? Das ist furchtbar! Der Großteil davon kam bereits in den ersten Monaten des Krieges in Gefangenschaft. Was hatten diese Leute für Möglichkeiten? Sie sitzen im Kriegsgefangenenlager unter schrecklichen Bedingungen: keine Lebensmittel, Schlafen unter offenem Himmel und zum Ende des Jahres Krankheiten, Epidemien, Typhus. Etwa 80 oder 90 Prozent der Kriegsgefangenen sind gestorben. Und dann kamen gut gekleidete Landsleute zu diesem Kriegsgefangenenlager und sagen: »Wir rufen Euch zum gemeinsamen Kampf gegen die Bolschewisten, zur Befreiung unserer Heimat. Ihr kommt frei und bekommt genug zu essen.« Was können diese Leute da antworten? Das war eine sehr schwere Wahl. Trotzdem haben viele, wahrscheinlich die überwältigende Mehrzahl, das Angebot der Wehrmacht abgelehnt. Aber natürlich hat ein Teil auch eingewilligt. Ich will sie nicht verteidigen, aber ich kann sie verstehen.

 

Ein interessantes Beispiel dafür ist ja auch das bewegte Schicksal des tatarischen Nationaldichters Musa Cälil, der ab 1942 in der Kriegsgefangenschaft auf das Angebot der Wehrmacht einging. Im Untergrund arbeitete er jedoch in einer Widerstandsgruppe, wofür er 1944 von einem deutschen Gericht verurteilt und in Berlin-Plötzensee guillotiniert wurde.

Musa Cälil wurde – auch von tatarischen Intellektuellen – lange Zeit als Verräter gesehen. Bestimmt bis Mitte der 1950er Jahre. Das änderte sich, als ein belgischer Antifaschist die Tagebücher und Gedichte Cälils aus dem Gefängnis in Moabit bei der sowjetischen Botschaft abgab. Allmählich wurden seine Gedichte bekannt, sein Widerstand gegen die Nazis und die Hinrichtung. So ist er ein Symbol in der Sowjetunion geworden. Ab wann er gegen die Nazis arbeitete, ist noch nicht vollkommen geklärt. Hierfür fehlen leider authentische Quellen. Meine Vermutung ist, dass er tatsächlich immer ein überzeugter Kommunist war.

 

Es waren also die sowjetischen Kriegsgefangenen der Deutschen, die vor der Frage standen, ob sie sich der Wehrmacht anschließen. Welche Rolle hat denn der Nationalismus bei der Entscheidung derer gespielt, die wirklich kollaborierten? Insbesondere für die Tataren.

Nationalismus? Nicht so viel. Das mit dem Nationalismus war oberflächlich. Für die Gefangenen war es eine Frage des Überlebens. Kollaboration war die wichtigste Strategie für sie. Nichtsdestotrotz denke ich, dass ein Teil dieser Leute doch nationalistisch geprägt war. Das waren vielleicht zehn Prozent. Der Rest bestand aus einfachen Opportunisten: Ok, die Deutschen geben uns was zu essen. Dann kann ich weiterleben. Vielleicht finde ich dann eine Möglichkeit, nach Hause zu kommen. Das war natürlich eine naive Vorstellung.

 

»Wir suchen in der Geschichte die Tatsachen, die unsere Gegenwart glorreich machen«

 

Wenn der tatarische Nationalismus nicht besonders entscheidend war, spielte denn der Islam eine Rolle bei der Entscheidung, sich den Nazis anzuschließen? Im Kampf gegen die militant-atheistische Führung der Sowjetunion?

Heutzutage schreibt man sehr viel über die Verbindung von Nazis und Islam. Tatsächlich war ich einer der ersten, der dieses Thema systematisch untersucht hat und jetzt ist es aktuell. Aber für mich ist die Diskussion heute nur Politik. Häufig wird da nur ein populistisches Narrativ bedient, weil es so gut ankommt. Trotzdem kann man so viel sagen: Islam war für Nazi-Deutschland ein sehr interessantes Thema. Denn eine bestimmte Interpretation des Islam war anti-britisch, anti-französisch und überhaupt anti-kolonial geprägt.

 

Deshalb hatten einige Nazi-Funktionäre die Idee entwickelt, dass die Muslime potenzielle Verbündete wären.

Darin hat man mehr Potential gesehen als in den lokalen nationalistischen Bewegungen der Region. Man hat sich vorgestellt, dass es über den Islam eine tatsächliche Möglichkeit für die ideologische Einigung der muslimischen Völker gibt. Aber das war damals genauso falsch wie während des Ersten Weltkriegs. Der Islam ist keine einheitliche Ideologie. Der Islam hat bei allen Völkern eigene Züge, eigene Interpretationen, eigene Traditionen. Beispielsweise kann ich nicht sagen, dass der tatarische Islam genauso ist wie der arabische. Eine Vereinigung über den Islam und eine effektive Instrumentalisierung für die Nazis war also illusorisch.

 

Wie blickt man denn in Tatarstan heute auf die Geschichte der Kollaborateure?

Heute ist das Thema nicht mehr so präsent wie zum Beispiel noch vor 20 Jahren. Man redet nicht so gerne darüber, weil jetzt russischer Patriotismus sehr populär ist. Insbesondere in den Vorbereitungen zum 75-jährigen Jubiläum des Sieges gegen den Faschismus möchte man über die eigenen Kollaborateure nicht reden. Deshalb werden wir viel mehr über die Helden hören, über diese ganzen patriotischen Dinge. Es ist wirklich ganz typisch, dass Geschichte immer wieder ein politisches Werkzeug wird. Wir suchen in der Geschichte nicht Geschichte, wir suchen in der Geschichte die Gegenwart. Wir suchen in der Geschichte die Tatsachen, die unsere Gegenwart glorreich machen. Daran ändert sich nichts.


Iskander Gilyazov ist Historiker und Direktor des »Instituts der tatarischen Enzyklopädie und Regionenkunde« der Akademie der Wissenschaften in Kasan. Kasan ist die Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan in Russland. Die eng mit den Türken verwandten Tataren stellen die größte mehrheitlich muslimische Bevölkerungsgruppe in  der russländischen Föderation. Das Gespräch fand im Rahmen eines von der Alexander-von Humboldt-Stiftung geförderten Forschungsaufenthalts im Februar in Berlin statt.

Von: 
Leo Wigger

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