Von Scharfschützen zerfetzt, von Vertriebenen besetzt, vom Staat vergessen: Ein Streifzug durch ein Viertel, das einst Beiruts intellektuellen Aufbruch begründete – und seinen Erhalt ausgerechnet dem Bürgerkrieg verdankt.
Das architektonische Herz Beiruts liegt versteckt – und doch mitten im Zentrum der libanesischen Hauptstadt. Hier reihen sich osmanische Paläste an neoklassizistische Villen. Dennoch läuft das Viertel noch immer unter dem Radar der meisten Besucher – und selbst der Hauptstädter. Die einst prächtigen Bauten sind mit der Zeit verblasst. Die Beiruter passieren Zokak al-Blat auf dem Weg in die ansagten Stadtviertel Gemmayze, Hamra oder Ras Beirut.
Noch im 19. Jahrhundert siedelten sich in Zokak al-Blat christliche und sunnitische Kaufleute an und setzten einen regelrechten Architekturwettbewerb in Gang. Über die Jahrzehnte hinweg entstanden auf engstem Raum traditionelle Sandsteinbauten im neoklassizistischen sowie osmanischen Stil und später vor allem moderne Betonhäuser im französisch-orientalischen Kolonialstil. Zokak al-Blat lockte mit seinem kosmopolitischen Flair schnell auch Universitäten, Schulen und diplomatische Vertretungen an.
Doch spätestens mit Beginn des libanesischen Bürgerkrieges verkam das einst prächtige Viertel zur Kulisse für den Kampf um die Kontrolle der Hauptstadt. Zokak al-Blat liegt an der »Grünen Linie«. Bis heute erinnern Einschusslöcher an den Häuserwänden an die stete Gefahr durch Scharfschützen und die heftigen Mörserangriffe besonders gegen Ende des fast 15-jährigen Bürgerkrieges.
Nach dem Krieg stellte sich auch in Zokak al-Blat die Frage: abreißen oder renovieren?
Der Krieg lähmte und trennte die Hauptstadt – aber bewahrte Zokak al-Blat vor dem Verschwinden, meint Serge Yazigi. Als Direktor des »Academic Urban Observatory« befasst sich der Architekt intensiv mit dem Wiederaufbau der Stadt. In den 50er und 60er Jahren seien immer mehr moderne Wohn- und Infrastrukturprojekte im Viertel umgesetzt worden, die den historischen Kern bedrohten und dem kulturellen Erbe nur noch wenig Platz ließen. »Der Krieg fror den baulichen Verfall Zokak el-Blats eine Zeit lang ein«, sagt der Stadtforscher und ist sich bewusst, wie zynisch sich das anhören muss.
Dennoch stellte sich nach dem Krieg auch in Zokak al-Blat die Frage: abreißen oder renovieren? Immerhin 1019 Gebäude stellte das Kultusministerium 1995 unter Denkmalschutz – davon 94 in Zokak al-Blat. Aber die Renovierung der zwei- bis vierstöckigen Häuser im Viertel erwies sich als zu teuer und warf kaum Profit ab. Der damalige Ministerpräsident Rafik Hariri fragte daraufhin zwei Jahre später beim Ministerium an, ob es seine Einschätzung nicht überdenke könne. Das Ergebnis: Ab 1998 galten nur noch 26 Gebäude in Zokak al-Blat als denkmalgeschützt.
Doch eine Reihe der Bauten konnte dem Abriss entkommen – nicht zuletzt, weil sie im Besitz von Stiftungen waren. Eines der prominentesten Beispiele ist das Farjallah-Haus, das seit 1963 das Orient-Institut in Beirut beherbergt. Andere Häuser verdanken ihren Erhalt einer anderen Hinterlassenschaft des Krieges: Vor Ausbruch des Krieges lebten in Zokak al-Blat mehrheitlich Christen und Sunniten. Doch dann zogen sich die Sunniten nach Westbeirut und die Christen ins östliche Beirut zurück. Gleichzeitig wurden viele Schiiten durch die Kämpfe im Südlibanon zu Flüchtlingen. In den verlassenen osmanischen Palästen Zokak al-Blats fanden sie ein neues Zuhause. Sie kauften die Häuser nicht, sie besetzten sie – auch noch nach Ende des Krieges. Für viele der Gebäude bedeutete die Besetzung somit ihre Rettung.
Das libanesische Kultusministerium nahm das Jubiläum zum Anlass, die Schule im Sommer 2019 wieder unter Denkmalschutz zu stellen.
Unter den geretteten Häusern befindet sich auch die ehemalige Wataniyya-Schule. Sie wurde im Jahr 1863 vom Übersetzer und Philologen Butrus Al-Bustani (1819-1883), gegründet. »Es handelte sich um die erste säkulare Schule im Nahen Osten und zog aufgrund ihres mehrsprachigen Curriculums und ihrer Ausbildung in den modernen Wissenschaften junge Menschen aus allen Provinzen des Osmanischen Reiches an«, erklärt der Islamwissenschaftler Jens Hanssen, der über den intellektuellen Aufbruch in Beirut seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts forscht.
Heute befindet sich die im spätosmanischen Stil aufgezogene Lehranstalt in einem desolaten Zustand. Viele der Bewohner wurden in der Zwischenzeit vertrieben. Sie wurden mit Abfindungen gelockt, um in Zokak al-Blat Platz für Neubauten und moderne Hochhäuser zu schaffen. Nur eine Familie hat standgehalten und damit wohl vorerst das Gebäude der alten Schule gerettet. Zumindest bis zum letzten Jahr. Denn da hätte Bustani seinen 200. Geburtstag gefeiert. Das libanesische Kultusministerium nahm das Jubiläum zum Anlass, die Schule im Sommer 2019 wieder unter Denkmalschutz zu stellen.
Seitdem führt Islamwissenschaftler Hanssen Gespräche über ein mögliches Restaurierungsprojekt. Die ehemalige Schule solle keiner bestimmten Konfession oder Klasse vorbehalten sein, sondern an das bunte Treiben um die Jahrhundertwende im Viertel erinnern: »Ideal wäre die Errichtung eines interkulturellen Zentrums, das Begegnungsort und Museum zugleich wäre.«