Die Trümmer der Explosion sind ein Mahnmal für den Niedergang des Libanon. Dass es nicht noch schlimmer kommt, dafür sorgen die Freiwilligen vom Zivilschutz – sie halten die Stellung am Hafen von Beirut.
Aus dem kleinen Lautsprecher am Handy kommt blecherner Techno. Ein Mann wippt zum Beat und öffnet das provisorische Holztor. Es quietscht. Möwen streifen am Himmel. »Willkommen in unserer Villa am Meer!« Er setzt sich hin, gießt sich einen Kaffee ein und schaut zum Horizont. Vor ihm das Meer, neben ihm ein zerstörtes Silo, hinter ihm Beirut.
Mohammad Fouad El Itani schaltet die Musik aus und zündet sich eine Zigarette an. »Nach der Explosion am 4. August 2020, einem Dienstag, habe ich mich sofort auf mein Motorrad gesetzt und bin zum Explosionsort gefahren«, erinnert er sich, während er den Rauch seiner Zigarette ausatmet. Plötzlich sei es Sonntag gewesen – geschlafen habe er in diesen Tagen kaum. Und nun schläft er nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem die 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat explodierten und so Hunderttausenden Menschen ihr Zuhause raubten.
Mohammad, der Moe genannt werden möchte, ist einer von rund 7.000 Frauen und Männern aller im Libanon lebenden Konfessionen, die freiwillig jeden Tag beim Zivilschutz ihr Leben riskieren. Ob bei Verkehrsunfällen, Bränden oder Demonstrationen – der Zivilschutz hilft Menschen in Not. »Für uns ist das eine Herzensangelegenheit, wir machen das nicht des Geldes wegen«, sagt Moe.
Ob bei Verkehrsunfällen, Bränden oder Demonstrationen – der Zivilschutz hilft Menschen in Not
Nachdem am Hafen erneut ein Brand ausgebrochen war, trat die Hafenpolizei mit einer Bitte an Moe und seine Kollegen und Kolleginnen heran. Sie wollte, dass der Zivilschutz weiterhin am Hafen bleibt, um künftigen Havarien vorzubeugen. Aus von der Explosion zerstörten Containern und Schutt, den sie auf dem Hafengelände fanden, bauten sich die Männer eine Station. Es ist ihre eigene »Villa am Meer«, wie Moe und seine Kollegen die Station nennen.
Und tatsächlich könnte hier, direkt am Meer, mediterrane Stimmung aufkommen, wäre da nicht die Ruine des zerstörten Silos in Sichtweite. Es ist ruhig. Am Tag kommen die Möwen und am Abend hört man die Grillen zirpen. Vor dem Eingangstor stehen zwei Feuerwehrautos – immer zum Einsatz bereit.
Vor 20 Jahren hat sich Moe dem Zivilschutz verpflichtet. An seine Beweggründe erinnert er sich noch genau.
Am 8. August 2000 hatte er sich als Freiwilliger gemeldet. Da war er gerade einmal 16 Jahre alt. Es war sein Kindheitstraum – er wollte ein Superheld sein und für viele Libanesen ist er das auch. Wenn man mit den Menschen im Libanon über den Zivilschutz spricht, dann vernimmt man Respekt und Anerkennung. Doch derzeit fehlt den freiwilligen Helfern des Zivilschutzes das Geld wie den meisten Libanesen. Der Libanon ist von einer schlimmen Wirtschaftskrise betroffen und das libanesische Pfund verliert kontinuierlich an Wert.
Bereits 2017 emigrierte Moe wegen der wirtschaftlichen Situation in seinem Heimatland nach Katar. Dort arbeitet er als Betriebsleiter in einem Freizeitpark. In seinen Ferien kam er regelmäßig zurück in den Libanon, um Zeit mit seinen beiden Töchtern zu verbringen – aber auch, um bei seiner zweiten Familie zu arbeiten, dem Zivilschutz.
Als Katar im März 2020 den Corona-Lockdown ausrief und alle Geschäfte schließen mussten, entschied sich Moe, vorerst in den Libanon zurückzukehren. Dort wohnt er wieder bei seinen Eltern und lebt von seinen Ersparnissen. Am Hafen in Beirut ist er nun unter anderem für die Arbeitssicherheit zuständig.
Die deutsche Firma Combi Lift wurde nach der Explosion beauftragt, weitere am Hafen lagernde Chemikalien zu entsorgen. Was sie dort fanden, »hätte leicht die nächste Bombe sein können«, sagt Malte Steinhoff, Sprecher von Combi Lift, gegenüber zenith. Seinen Angaben zufolge warten derzeit mehr als 1.000 Tonnen hochexplosive und hochgiftige Chemikalien – der Inhalt von insgesamt 59 Containern – auf den Abtransport nach Deutschland.
Vorbeifahrende Sicherheitskräfte berichten Moe darüber hinaus von Chemikalien in zerstörten Containern, die vom Hafen aus langsam ins Meer fließen. Wie lange der Zivilschutz seine Villa am Meer betreiben wird, ist ungewiss. »Hier am Hafen sind heute immer noch Menschen unter den Trümmern vergraben – und solange wir sie nicht gefunden haben, können wir unsere Arbeit hier nicht beenden. Das sind wir ihren Familien schuldig«, sagt Moe.
Oft stehen Angehörige der Opfer vor den Toren des abgesperrten Sicherheitsbereichs am Hafen. Sie halten Schilder in die Luft und verlangen Aufklärung. Dass die Familien jemals Antworten erhalten werden, bezweifelt der 36-Jährige. »So etwas wie Gerechtigkeit gibt es im Libanon nicht«, flüstert er. Libanon. Das war mal ein Traum. Morgens in den Bergen Skifahren, mittags im Meer schwimmen und abends in einem der vielen Clubs der Stadt feiern. Tagelange Technopartys und Raves. Ein Traum, den Moe gern wieder leben würde.
Doch angesichts der Umstände sollte er eher das Land verlassen, glaubt er. Was ihn zurückhält, sind vor allem seine Kameraden auf der Station. »Man kann seine Berufung nicht einfach abstreifen und vergessen, wer man ist«, meint Moe. Er krempelt den Ärmel seiner Uniformjacke hoch und streckt seinen Arm in die Höhe. »Ich bin ein Feuerwehrmann. Ein Freiwilliger beim Zivilschutz«, und zeigt eine Tätowierung am Arm. »Firefighter« steht da in großen Buchstaben.