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Anime am Golf und in Saudi-Arabien

Muhammads Reise ins Zauberland

Feature
Anime am Golf und in Saudi-Arabien
Screenshot aus »The Journey«. Der 2021 erschienene Streifen ist der erste saudische Spielfilm im Anime-Stil.

In den Staaten am Golf werden Animationsfilme immer beliebter. Der Hype um Anime und Co. hat die saudische Königsfamilie auf eine Idee gebracht.

Film ab: Die Bewohner Mekkas versammeln sich, um ihre Heimat zu verteidigen. Vor den Stadttoren wartet eine Armee von Kriegselefanten. Doch nur ein Blick auf die Charaktere mit ihren großen Augen und stacheligen Frisuren genügt, um zu sehen, dass es sich dabei um keinen typischen arabischen Spielfilm handelt. Und so beendet Mekkas Kommandant seine Kampfansprache mit arigato, Japanisch für »danke«. »The Journey« (2021) ist Saudi-Arabiens erster Spielfilm im Anime-Stil.

 

Für viele Saudis war die Veröffentlichung eine Überraschung: Immerhin vereint er eine typisch arabische Geschichte mit dem Stil der im Golfkönigreich beliebten japanischen Zeichentrickserien. Der 18-jährige Anime-Fan Muhammed erzählt: »Alle waren so gehypt, als der Trailer herauskam. Sogar mein Vater hat ihn sich angeschaut. Es ist schön, als Araber mal in einem Blockbuster nicht als Terrorist dargestellt zu werden.«

 

»The Journey« erzählt eine Geschichte aus dem Koran: Der König von Aksum möchte die Kaaba, heute das zentrale Heiligtum des Islam, zerstören. Ein Heer von Kriegselefanten gibt diesem Ereignis, über das historisch nur wenig gesicherte Informationen vorliegen, seinen Namen: das »Jahr des Elefanten«. Doch warum erzählt man arabische Geschichte mit japanischer Animation?

 

»Saudi-Arabien will seine Wirtschaft breiter aufstellen und unabhängig vom Öl werden«, sagt die Saudi-Arabien-Expertin Kristin Smith Diwan vom US-Thinktank »Arab Gulf States Institute«. Dafür investiert die Regierung enorme Summen in den Kultursektor: So hat »The Journey« zwischen zehn und 15 Millionen Euro gekostet. Die MiSK Foundation – eine Stiftung im Besitz von Kronprinz Muhammad Bin Salman (MBS) – finanzierte den Streifen mit 110 Minuten Laufzeit. Auch das Kulturministerium fördert viele Projekte im Kulturbereich, »von Mode bis zu Architektur und Film«, ergänzt Kristin Smith Diwan.

 

»Es geht auch darum, der Welt ein neues Saudi-Arabien vorzustellen«, so die Expertin. Riad möchte Tourismus als zweites Standbein neben der Ölwirtschaft aufbauen, doch das Golfkönigreich ist, nicht zuletzt wegen der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi und dem Krieg im Jemen, als rückschrittlich und autoritär verschrien. Saudische Filme und Serien sollen den schlechten Ruf des Golfstaats aufbessern. »Es geht darum, die Saudis zu Kulturbotschaftern zu machen«, glaubt Smith Diwan.

 

Dass Saudi-Arabien auf Animes setzt, entspricht dem Zeitgeist: »Anime ist überall. Momentan genießt das Genre große Popularität unter jungen Menschen«, sagt der saudische Anime-Fan Eshaim. Das Golfkönigreich ist Heimat des größten Anime-Publikums im Nahen Osten. »Man hört auch, dass MBS höchstselbst ein großer Aficionado japanischer Kultur sein soll«, fügt Smith Diwan hinzu. »Saudi-Arabien ist digital eng verbunden mit dem Rest der Welt. Jeder Saudi, den ich kenne, besitzt mehr als ein Handy«, führt die Expertin aus. »Früher war es das Satellitenfernsehen, heute Streaming. « Die globale Anziehungskraft japanischer Produkte ist auch in die Golfstaaten übergeschwappt und hat die Popularität von Animes weiter steigen lassen.

 

Anime am Golf und in Saudi-Arabien
»The Journey« erzählt eine Geschichte aus dem Koran: Der König von Aksum möchte die Kaaba, heute das zentrale Heiligtum des Islam, zerstören.

 

Dabei wird Zeichentrick aus Japan im Nahen Osten schon weitaus länger geschaut als im Westen: Während in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre Animes noch als Pornografie verrucht war, kaufte die »Institution für Gemeinsame Produktion« Rechte an japanischen Animationsserien. 1976 vom Golfkooperationsrat gegründet, erhielt die Organisation umgehend ihren ersten großen Auftrag: das Fernsehprogramm mit Sendungen für Kindern zu füllen. Während arabische TV-Sender eine große Auswahl an Dramaserien übertrugen, fehlte es an Unterhaltungsformaten für den Nachwuchs.

 

Der Grund: Das Fernsehen im Nahen Osten steckte noch in seinen Kinderschuhen. Die meisten TV-Kanäle gingen erst in den 1960er-Jahren auf Sendung. Animes sollten die Lücke im Programm füllen. Doch warum entschied man sich für japanische Animation und nicht für westlichen Zeichentrick? Animes waren zu diesem Zeitpunkt außerhalb Japans ein Nischenprodukt, die Lizenzrechte entsprechend günstig.

 

»Westliche Animationsserien wie ›Tom und Jerry‹ wurden auch ausgestrahlt, aber die meisten Kindersendungen waren ins Arabische übersetzte Animes«, erzählt Omar Al-Ghazzi. Als Kind in Syrien sei er eines von vielen arabischen Kindern gewesen, die von der Schule nach Hause liefen, den Fernseher aufdrehten und Animes schauten: »Die Fernsehsender begannen am frühen Nachmittag mit der Übertragung: Zuerst kam die Nationalhymne, dann wurden Verse aus dem Koran zitiert und schlussendlich wurde das Kindersegment, meist bestehend aus Animes, gezeigt«, erinnert sich der Kommunikationsprofessor, der an der London School of Economics lehrt.

 

Den meisten Kindern wäre damals nicht bewusst gewesen, dass sie Animationsserien aus dem fernen Japan schauten, erzählt Omar Al-Ghazzi: »Wir dachten natürlich, das wären arabische Sendungen. Die Serien waren aber lediglich auf Hocharabisch neu vertont worden, damit sie im ganzen Nahen Osten ausgestrahlt werden konnten.« Übersetzt wurde in Syrien und dem Libanon.

 

Bei der Neuvertonung bestand kein Interesse daran, die ursprüngliche Bedeutung zu erhalten: Sexuell Anrüchiges und Anspielungen an Buddhismus und Shintoismus fielen der Zensur zum Opfer. Währenddessen wichen Themen wie Japans Angst vor Atomwaffen nationalistischen Narrativen aus den Übersetzungsländern Syrien und Libanon, die sich damals im Konflikt mit Israel befanden.

 

Anime am Golf und in Saudi-Arabien
Die Comedy-Serie »Masameer County« ist inspiriert von Cartoons wie »Family Guy« und »Die Simpsons« und beleuchtet das saudische Alltagsleben.

 

»Szenarien wie Dorfbewohner, die sich vor Angreifern verteidigen, wurden nationalistisch ausgeschmückt«, erklärt Omar Al-Ghazzi. »Besonders wenn man die Titelmelodien dieser Übersetzungen heute mit einem kritischen Geist hört, erkennt man, dass sie an die politische Kultur und den Zeitgeist der 1980er-Jahre angepasst worden sind.« Auch die eingängigen Intro-Melodien wurden teilweise mit arabisch-nationalistischem Vokabular angereichert.

 

Aufwändige Neuvertonungen werden so heute nicht mehr umgesetzt: »Unter den Jugendlichen schaut sich niemand Animes auf Arabisch an – die meisten streamen online die japanischen Originale mit Untertiteln«, erklärt Eshaim. Anders als früher lassen sich Animes nicht mehr so einfach zensieren. »Bei japanischen Animationsserien sind die Regeln gegen Produktpiraterie oft sehr lasch. Man findet viele Videos kostenlos im Netz. An westliche Animationen kommt man ohne Netflix-Abo viel schwerer ran«, hat Eshaim beobachtet.

 

Die einfache Verfügbarkeit des Materials sorgt bei einigen Regierungen in der Region für Verunsicherung, glaubt Omar Al-Ghazzi: »Vor Kurzem brach eine regelrechte moralische Panik aus, weil in der Netflix-Animationsserie ›Jurassic World: Neue Abenteuer‹ ein Kuss zwischen zwei Mädchenfiguren zu sehen war.« Der Golfkooperationsrat drohte daraufhin, Netflix vom Netz zu nehmen, sollte das Unternehmen die Folge nicht aus dem regionalen Angebot streichen.

 

Anime-Eigenproduktionen sollen als berechenbarere Alternative zu global verfügbaren Angeboten dienen. Kein Wunder, dass in »The Journey« Themen wie Patriotismus im Mittelpunkt stehen. »Die saudische Regierung sieht in solchen Medienproduktionen eine Chance, ihre Version eines neuen Nationalismus zu festigen«, glaubt Kristin Smith Diwan. »MBS hat mit den alten religiösen Eliten gebrochen und Saudi-Arabiens Gesellschaft etwas geöffnet. Doch dafür braucht man ein neues Bildungsfundament.«

 

Dennoch sind auch saudische Animationsserien weit davon entfernt, lediglich die offizielle Propagandalinie wiederzugeben: So traut sich die Serie »Masameer County«, Themen wie Homosexualität, Machismo und Armut anzusprechen. Die Comedy-Serie – inspiriert von Cartoons wie »Family Guy« und »Die Simpsons«, die im Golf eigentlich nur ein Schattendasein hinter den viel populäreren Anime-Serien fristen – beleuchtet das saudische Alltagsleben. Viele Zuschauer finden sich in der Erzählung wieder und verhalfen der Serie so zu einem großen Erfolg. »Man findet ›Masameer County‹ überall: Memes, Parodien oder einfach als Zitate in Gesprächen«, erzählt Anime-Fan Eshaim.

 

»Rund um den Beginn des Arabischen Frühlings tauchten im Netz immer wieder kreative und regierungskritische Animationen auf, besonders auf YouTube«, erklärt Kristin Smith Diwan. Die Karriere von Malik Nejer, einem der Schöpfer von »Masameer County«, begann 2009. Damals starben über Hundert Menschen in Dschidda infolge von Starkregen und Überflutungen. In einem Animationsvideo auf YouTube machte er sich über die Antwort der Regierung auf die Flut lustig. »So etwas war damals noch möglich – es herrschte eine Wildwest-Atmosphäre. Heute dagegen ist der Staat allgegenwärtig«, sagt Smith Diwan.

 

Der saudische Staat möchte kontrollieren, was gesendet wird: Medien, Studios und Fernsehkanäle sind in den Händen einiger weniger Unternehmer: »Und der Königshof mischt auch mit«, ergänzt Smith Diwan. So bekommen Menschen aus der Medienbranche zuweilen in einem Anruf mitgeteilt, welche Themen die saudische Regierung gern auf der Leinwand sehen würde. Doch auch die saudische Gesellschaft setzt dem, was gesagt werden darf und was nicht, enge Grenzen. Wenn ein Thema zu provokant ist, muss man als Künstler mit viel öffentlicher Kritik rechnen.

 

Für offene Kritik an der Staatsspitze gibt es erst recht keinen Platz. »Dank der Mehrdeutigkeit von Humor können aber Serien wie ›Masameer County‹ die Gesellschaft als Ganzes kritisieren.« Der Cartoon gibt sich apolitisch: Gesellschaftliche Missstände werden benannt, ihre Ursprünge nicht. Wenn Kritik am Staat laut wird, dann wird sie nur an korrupten oder inkompetenten Beamten festgemacht. Am saudischen Königshof sieht man das gern: »Kritik an Korruption und Bürokratie wird sogar begrüßt. Das nützt den Reformplänen von MBS«, glaubt Expertin Smith Diwan.

 

Die saudische Führung treibt den Ausbau der Animationsindustrie voran: Wirtschaftliche Diversifizierung, Prestige und Festigung der Regierungskontrolle sind die Ziele. »Dass Saudis darüber sprechen, wie es ist, ein Saudi zu sein – das ist Teil eines größeren nationalistischen Projekts«, glaubt Smith Diwan. Doch mit Investitionen in solche Projekte entstehen auch neue Freiräume: Kreative Köpfe können – wenn auch hinter vorgehaltener Hand – Tabuthemen ansprechen. Und womöglich Saudi-Arabiens konservative Gesellschaft verändern.

Von: 
Raphael Bossniak

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