Mustafa Al-Kadhimi, der Premierminister des Irak, ist in Europa auf der Suche nach Verbündeten im Kampf gegen den IS – sowie dem nötigen politischen Rückhalt, um innenpolitische Machtkämpfe zu überstehen. zenith hat ihn getroffen.
Mit einem Besuch in London endet die erste Europareise des irakischen Premierministers Mustafa Al-Kadhimi, die ihn zuvor nach Frankreich und Deutschland gebracht hatte. Sein Besuch in den Machtzentren Europas ist der vorerst letzte Akt einer Reihe bilateraler Unterredungen, die den Regierungschef in den vergangenen Wochen bereits nach Washington und den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zu Kadhimis Amtssitz nach Bagdad geführt hatten.
Später verbreitete Fotos seines Berlinbesuchs zeigen den irakischen Premier und Angela Merkel ins Gespräch vertieft auf den Stufen des Kanzleramts – einander zugewandt, trotz pandemisch gebotenen Abstands. Dass Kadhimi in der Kanzlerin eine Fürsprecherin hat, unterstreicht auch die gemeinsame Pressekonferenz, auf der sich Merkel vom Reformwillen des Premiers beeindruckt zeigt.
Kadhimi ist mit schwerem Gepäck nach Berlin und Europa gereist. Wie schwer, zeigt er im Gespräch mit einer kleinen Runde deutscher Journalisten, an der auch zenith teilnahm. »Ich bin ein Vogel mit gestutzten Flügeln«, sagt der Premierminister und meint die Staatsfinanzen, könnte so aber auch sein politisches Mandat umschreiben.
Der parteilose Schiit folgte im Mai auf die Regierung des glücklosen Adil Abd Al-Mahdi, den Massenproteste aus dem Amt spülten. »Meine Regierung ist an die Macht gekommen, weil die Jugend des Landes den Glauben an die Zukunft verloren hat«, sagt Kadhimi. Letzlich bestätigte das Parlament ihn zwar als Mahdis Amtsnachfolger, winkte aber nur einen Teil seines Kabinetts durch. Wenig später kündigte Kadhimi Neuwahlen für den Sommer 2021 an.
Wichtiger noch als die Fotos, die Kadhimi auf Augenhöhe mit Europas Spitzenpolitikern zeigen, sind die Hilfszusagen aus Berlin, Paris und London. Neben vertiefter wirtschaftlicher Zusammenarbeit stellt Merkel etwa Unterstützung beim Kampf gegen die Pandemie und technisches Gerät für die bessere Durchführung von Wahlen in Aussicht. Zudem will sich die Bundeskanzlerin für eine Verlängerung des Bundeswehrmandats im Zweistromland stark machen.
Unterstützung, auf die der Irak dringend angewiesen ist. Die Wirtschaft des Landes ist in hohem Maße abhängig vom Ölpreis – der schon vor dem globalen Abschwung im Zuge der Pandemie auf ein für die Rentenökonomien des Nahen und Mittleren Osten gefährlich tiefes Niveau gestürzt war. Im Zusammenspiel mit endemischer Korruption, einem aufgeblähten Staatssektor und wirtschaftlichem Missmanagement geht Kadhimi schlicht das Geld aus.
Dass der Widerstand im Kampf gegen diese Missstände groß sein würde, darf den früheren Geheimdienstchef Kadhimi nicht überraschen. Mit den Untiefen des irakischen Politbetriebs ist er vertraut. Vielleicht ist es das Wissen um sein begrenztes Mandat, das es ihm erlaubt, Probleme offen zu benennen – und einen Reformprozess in den wenigen Monaten bis zur Neuwahl zumindest anzustoßen. Zwei Ansätze stechen dabei heraus: Die Moderation innenpolitischer Spannungen und der Versuch, die internationale Gemeinschaft an der Seite Iraks zu halten.
Von »unverantwortlichem Verhalten« spricht Kadhimi, mit Blick auf die eskalierende Rhetorik zwischen Iran und den USA. Die direkten und indirekten Folgen der Konfrontation dürften wie kein anderes Thema seine Amtszeit prägen. Allen voran die so befeuerte innenpolitische Konfrontation mit bewaffneten schiitischen Gruppierungen und deren politischen Ambitionen.
Von dem Haschd Al-Schabi, den Volksmobilmachungskräften, spricht Kadhimi als Teil der regulären Sicherheitskräfte im Land, sagt aber: »Unter dem Banner des Hashd versammeln sich auch unrechtmäßige Gruppen« und verspricht: »Wir arbeiten an einer Umstrukturierung und wollen Gruppen, die sich nicht an irakische Gesetze halten, vom Rest des Haschd trennen.«
Dass die Amerikaner nach anhaltendem Beschuss der Bagdader Green Zone durch diese Gruppen aber offen mit einer Schließung ihrer Botschaft drohen, habe Kadhimi überrascht. »Denen geht es doch nicht darum, die Amerikaner zu treffen, die wollen uns, die irakische Regierung, bloßstellen.« Beim Besuch Kadhimis in Washington im August ging es dann auch darum, auszuloten, wie sehr der von US-Präsident Donald Trump verkündete Teilabzug amerikanischer Soldaten dem Getöse des Wahlkampfs geschuldet ist – und wie sich diese Position unter einem Präsidenten Joe Biden ändern würde.
Der findet in einem kürzlich erschienenen Essay zwar kein lobendes Wort für die Außenpolitik der Trump-Administration, fordert aber inhaltsgleich zum Amtsinhaber das Ende der »ewigen Kriege« in der Region. In Bagdad muss das nach Truppenabzug klingen. Immerhin: Der Demokrat beklagt, dass die Ermordung des iranischen Generalmajors Qassem Soleimani auf irakischem Territorium die Gefahr einer Eskalation im Nahen Osten gefährlich erhöht habe. Eine Einschätzung, die man in Bagdad teilt.
Neue Proteste sind bereits geplant
Der Besuch in Paris, Berlin und London zeigt, dass Kadhimi auf eine gewisse politische und wirtschaftliche Rückendeckung aus Europa vertrauen darf. »Europa und Irak liegen nah beieinander«, gibt er zu bedenken und noch sei der so genannte Islamische Staat im Irak nicht besiegt. Klar ist aber auch, dass die meisten EU-Staaten schon vor den Herausforderungen der Pandemie nur wenig Interesse an einer größeren militärischen Präsenz in der Region hatten. Unsicherheiten mit Blick auf die US-Wahl und den drohenden, ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union dürften ihr Übriges tun.
Viel wird deshalb davon abhängen, wie geschickt Kadhimi die innenpolitischen Stromschnellen der kommenden Monaten meistert. Zuletzt hatten die Morde an Aktivisten wie Riham Yacoub in Basra und dem Analysten Hisham Al-Hashimi in Bagdad ein Gefühl staatlicher Ohnmacht gefestigt. Unterstrichen durch Angriffe auf kurdische Einrichtungen und den fortwährenden Beschuss amerikanischer Einrichtungen, dem wichtigsten Verbündeten der Regierung Kadhimi.
Kadhimi wird diesen Saboteuren seiner Politik nur dann die Stirn bieten können, wenn er sich der direkten Unterstützung einflussreicher, unter dem Banner des Haschd organisierten, Gruppen versichern kann. »Kadhimis Strategie besteht darin, Unterstützung innerhalb dieser Kreise zu mobilisieren«, glaubt die Irak-Analystin Inna Rudolf vom Londoner King’s College und Mitglied im Board der Candid Foundation.
»Er möchte eine Auseinandersetzung zwischen dem Haschd und der Regierung vermeiden. Kadhimi weiß, wie stark der paramilitärische Dachverband in staatstragende Strukturen eingebettet ist und was es bedeuten würde, zu versuchen, den gesellschaftspolitischen Einfluss dieser Gruppe mit Gewalt einzudämmen.«
Die unzufriedenen jungen Iraker bittet der Premierminister hingegen um Geduld. Keine Regierung könne all die Probleme innerhalb weniger Monate lösen. Zugesagtes medizinisches Material aus Deutschland wird bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie helfen und größere Wirtschaftsprojekte mit französischer Unterstützung einige hundert Iraker in Arbeit bringen. Nichts davon wird mittelfristig gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die strukturelle Abhängigkeit vom Ölpreis helfen.
Was Kadhimi seinen irakischen Landsleuten hingegen angeboten hat, ist der Kampf gegen Korruption und eine politische Rhetorik, die nicht auf die weitere, konfessionelle Spaltung des Landes setzt. »Wir sind die erste Regierung, die Iraker zuerst auf Basis ihrer nationalen Zugehörigkeit und nicht ihrer Identität behandelt«, fasst er seinen Ansatz zusammen. Wie glaubwürdig diese Reformschritte sind, wird das irakische Volk mit den Füßen entscheiden. Für das Wochenende sind pünktlich zum Jahrestag der letzten Protestwelle neue Demonstrationen angekündigt.