Premier Abdallah Hamdok und die Armeeführung kommen einen Monat nach dem Putsch zu einem Arrangement – die Protestbewegung bleibt außen vor. Warum das Militär gerade im Sudan so viel Einfluss auf die Politik nimmt.
Knapp einen Monat nach dem Putsch im Sudan ist Abdallah Hamdok wieder Premierminister. Doch die Einigung mit der Armeeführung, auf die sich der 65-Järige am 21. November einließ, bedeutet keine Rückkehr zum ursprünglich vereinbarten Transitionsprozess. Armeechef Abdelfattah Burhan kündigte zwar Verfassungsänderungen an, die das Verhältnis von Militär und Zivilisten in der Regierung regulieren sollen, ebenso eine Reform der Truppe selber sowie einen Untersuchungsausschuss zur gewaltsamen Niederschlagung der Proteste, die dem Staatsstreich folgten.
Dennoch handelt es bei diesen Schritten lediglich um strategische Schein-Konzessionen mit dem Ziel, die Ausweitung der Massenproteste zu verhindern. Dieser Schachzug ist bislang nicht aufgegangen. Dass Hamdok nun mit den Putschisten kooperiert, wird ihm von vielen Protestierenden als Verrat ausgelegt und kostet sowohl das Militär als auch den Premier viel Glaubwürdigkeit. Vor dem Hintergrund ausbleibender internationaler Gelder würde ein ungebremstes Ausdehnen der Proteste Stabilität und Regierungsfähigkeit des Militärs bedrohen.
Im Grunde genommen war der Coup im Sudan keine Überraschung, denn viele Rahmenbedingungen für eine militärische Intervention sind seit Langem vorhanden. Da der Sudan in fast jedem Jahrzehnt seit 1955 mindestens einen Militärcoup verzeichnete, hat das Militär besonders gegenüber jungen demokratischen Institutionen einen Vorschuss an politischer Erfahrung. Folgecoups sind zudem nicht unüblich.
Die andauernde wirtschaftliche Krise setzt sowohl der Zivilbevölkerung als auch den kommerziellen Aktivitäten der Streitkräfte zu. Durch lang andauernde Konflikte und Kriege konnte das Militär seinen Gewicht in innenpolitischen Angelegenheiten steigern sowie Bedarf an Personal und Finanzierung anmelden. Der Wegfall von Erdölumsätzen sowie Entwicklungshilfen im Zuge des Coups macht den finanziellen Bedarf des Militärs noch einmal dringlicher.
Am 11. November berief General Al-Burhan einen neuen »Souveränitätsrat« ein
Am 25. Oktober wurde die amtierende Übergangsregierung Sudans durch einen Militärputsch des Amtes enthoben. Geführt wurde der Coup vom jetzigen Präsidenten General Abdelfattah Al-Burhan sowie Mohamed Hamdan Dagalo, genannt Hemeti. Premier Abdallah Hamdok verweigerte dem Putsch seine Unterstützung, rief zum Widerstand auf und wurde unter Hausarrest gestellt. Seitdem reißt der Protest gegen den Staatsstreich nicht ab.
Am 11. November berief General Al-Burhan einen neuen »Souveränitätsrat« ein, in dem Dagalo Stellvertreter bleibt, aber zivile Akteure gänzlich außen vor bleiben. Der von Hamdok geforderte vollständige Machtübergabe an eine Regierung bis zum 17. November erteilte das Militär eine Absage. Dem Militär nahestehende Mitglieder seines Kabinetts erklären gar eine Rückkehr zum Machtteilungsmodell vor dem Putsch für unrealistisch.
Für Sommer 2022 wären die nächsten Wahlen im Sudan angesetzt gewesen. Mit der Übergangsverfassung von 2019 wurde auch ein Zeitraum von 39 Monaten für einen demokratischen Übergang festgelegt. Die ersten 21 Monate sollte das Militär das Kabinett leiten, danach eine von Zivilisten geführte Regierung. Dieser Übergangsdeal wurde hart erkämpft, die Übergabe an Zivilisten ist gemäß des Zeitplans überfällig.
Auch als Mubarak und Ben Ali stürzten, erschien das Baschir-Regime dank des Wahlsiegs noch sehr stabil
Die Ausgangsbedingungen der Protestbewegungen von 2019 und 2011 ähneln sich durchaus, darunter nicht zuletzt eine sehr hohe Arbeitslosigkeit, hohe Inflationsraten, ein Anstieg der Lebensmittel- und Immobilienpreise sowie eine überdurchschnittlich junge Bevölkerung, die nach Jahrzehnten der Autokratie nach demokratischer Teilhabe strebt. Hier enden die Gemeinsamkeiten mit den anderen Ländern des Arabischen Frühlings jedoch.
Sudans Bevölkerung ist in ethnoreligiöser Hinsicht weit weniger homogen als etwa in Ägypten und Tunesien. Die Frage der arabischen Identitätszugehörigkeit sowie Grenzziehungen zwischen den verschiedenen Stämmen sind dabei von hoher Brisanz. Politische und ökonomische Unterschiede vertiefen bestehende ethnoreligiöse Spaltungen. Während die arabisierte Bevölkerung vorwiegend im Zentrum konzentriert ist, wird die Peripherie wirtschaftlich marginalisiert und geradezu ausgegrenzt.
Auf dem Höhepunkt der tunesischen Protestbewegung im Januar 2011 hielt Sudan das Referendum über die Unabhängigkeit des Südens ab. Zuvor hatte die Nationale Kongresspartei von Omar Al-Baschir die Parlamentswahlen von 2010, die von vielen Oppositionsparteien boykottiert worden war, mit großem Abstand gewonnen.
Auch als Mubarak und Ben Ali stürzten, erschien das Baschir-Regime dank des Wahlsiegs noch sehr stabil. Entsprechend nahm der Arabische Frühling im Sudan erst später im Zuge von drastischen Sparmaßnahmen und steigenden Ölpreisen Fahrt auf – zunächst nur in Form sporadischer und über das Land verstreuter Proteste.
Sudan verzeichnete seit 1955 ganze 17 erfolgreiche und gescheiterte Putschversuche durch das Militär
Durch die Unabhängigkeit Südsudans verlor der Sudan mehr als 70 Prozent der Erdöleinnahmen. Die hohe Inflation, der Wegfall von Subventionen für Weizen und Elektrizität sowie Baschirs Intention, erneut bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten, befeuerten schließlich Proteste in Khartum, bei denen sich diverse Oppositionsgruppen zu den »Kräften für Freiheit und Wandel« zusammenschlossen.
Sie sollten zusammen mit dem Militär-Übergangsrat das Land bis zu den Wahlen 2022 regieren. Dem Armeegremium stand fortan Abdel-Fattah Al-Burhan vor, Mohamed Hamdan Dagalo, damals noch Kommandeur der vorwiegend arabischen paramilitärischen »Schnellen Unterstützungskräfte«, wurde sein Stellvertreter.
Im Zuge des Übergangsprozesses entwickelten sich Reformen im Sicherheitsbereich, kommerzielle Aktivitäten des Militärs, die Gründung eines Verfassungsgerichts sowie die Ernennung eines Justizministers zu brisanten Streitpunkten, die sowohl Demonstrationen für als auch gegen ein Einschreiten des Militärs nach sich zogen. Unter dem Vorwand, einer Aufwiegelung gegen das Militär Einhalt zu gebieten, setzten Al-Burhan und Dagalo dem Übergang dann im Oktober ein abruptes Ende.
Beim Coup im Oktober handelt es sich bereits um den zweiten Putschversuch seit dem Baschirs Sturz 2019, und es ist bei weitem nicht die erste militärische Intervention in Sudans Innenpolitik. Sudan verzeichnete seit 1955 ganze 17 erfolgreiche und gescheiterte Putschversuche durch das Militär – mehr als Syrien oder im Irak.
In Darfur im Westen, in Südkordofan sowie im Staat Blauer Nil im Süden des Landes liegen gleich drei Konfliktherde
Während sich Putsche weltweit eher in den 1950er und 1960er Jahren häuften, ereigneten sich im Sudan in fast jedem Jahrzehnt seit der Unabhängigkeit mindestens zwei Umsturzversuche, manchmal sogar mehrere im selben Jahr. Diese Häufung hat mehrere Gründe. Zum einen ziehen Putsche häufig Folgecoups nach sich, gerade wenn interne Brüche innerhalb der Streitkräfte auftreten, sich militärische Loyalität zum Machthaber nicht mehr rentiert, oder sich der Machthaber nicht ausreichend gegen Folgecoups absichern kann.
Auch wenn die Konflikte in Darfur, im Bundesstaat Blauer Nil und in Kordofan in der Forschung getrennt von den Militärcoups untersucht werden, bestehen wichtige Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Laufende Kriege im Land oder an den Landesgrenzen benötigen laufend militärische Ausrüstung und personelle Ressourcen.
Oft reicht eine subjektive Bedrohungswahrnehmung, egal ob aus dem Innern oder seitens der Nachbarn, um Militärausgaben in die Höhe zu treiben. Gleichzeitig erhalten laufende Aufstandsbekämpfung und Bürgerkriege die innenpolitische Relevanz und Dringlichkeit von militärischen Aktivitäten, die beispielsweise durch Gefahrenabwehr oder den Kampf gegen den Terrorismus gerechtfertigt werden kann.
In Darfur im Westen, in Südkordofan sowie im Staat Blauer Nil im Süden des Landes liegen gleich drei Konfliktherde. Das Nuba-Gebirge in Südkordofan und Blauer Nil wird seit dem Unabhängigkeitsreferendum von Sudan verwaltet, während sich die ethnoreligiös diverse Bevölkerung dem Süden zugehörig fühlt, aber nicht am Referendum teilnehmen durfte.
Mit der Sezession Südsudans verloren der Sudan und damit auch die Streitkräfte eine wichtige Einkommensquelle
Abyei in Südkordofan, an der Grenze zum Südsudan, ist zudem wegen der dortigen Ölvorkommen umkämpft. Die nichtarabische Bevölkerung in Darfur wird marginalisiert und gewaltsam unterdrückt. Baschirs Nationale Kongresspartei nutzte diese ethnoreligiösen Spaltungen in der Peripherie aus, um ethnische Milizen gegeneinander auszuspielen und das arabisch dominierte Zentrum abzugrenzen.
Besonders wenn Streitkräfte durch wirtschaftliche Privilegien an ein Regime gebunden werden, können Wirtschaftskrisen und Einsparungen in Militärausgaben weitreichende Folgen haben. Die Ölvorkommen in den südlichen Grenzgebieten, darunter in Abyei in Südkordofan, sowie im Staat Blauer Nil, sind besonders wichtig und umkämpft, denn aus den Einnahmen können sich die sudanesischen Streitkräfte finanzieren.
Mit der Sezession Südsudans, dessen Ölvorkommen vor allem im Norden liegen, verloren der Sudan und damit auch die Streitkräfte eine wichtige Einkommensquelle. Durch den Coup weg gefallene internationale Entwicklungshilfen und die weiterhin hohe Inflation bringen die Administration zusätzlich in finanzielle Schwierigkeiten, wodurch alternative Finanzierungsquellen umso mehr in den Vordergrund rücken.
Dagalo hat seine »Schnellen Unterstützungskräfte« 2017 Goldminen unter anderem in Darfur einnehmen lassen und stieg so zu einem der reichsten Männer im Sudan auf. Abnehmer dieses Golds sind insbesondere die Vereinigten Arabischen Emirate. Dass trotz des hohen finanziellen Bedarfs Sudans Militärausgaben laut SIRPRI 2020 lediglich 1,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts beanspruchten, deutet nicht nur auf andere Finanzierungsquellen außerhalb des Staatshaushalts hin, sondern auch auf die Verteilung von Ausgaben durch paramilitärische Milizen, die in Darfur, Blauer Nil und Kordofan aktiv sind.
Dagalo droht eine Anklage wegen Genozid und Kriegsverbrechen in Darfur
Ethnoreligiöse Zersplitterung und das Erbe der Militärcoups machen gerade im Kontext von wirtschaftlicher Instabilität den Machttransfer zu einem riskanten Unterfangen – und werfen ihre Schatten auf die anstehenden Wahlen. Gerade wenn die Chancen schlecht stehen oder unliebsame Kandidaten mit hoher Wahrscheinlichkeit gewinnen könnten, sind vorbeugende Staatsstreiche keine Seltenheit.
Ob die Wahlen im Sommer 2022 wie geplant stattfinden oder aufgeschoben werden, ist noch offen. Fest steht, dass ein relativer Machverlust in Khartum durch eine zivile Regierung, die den kommerziellen Aktivitäten des Militärs kritisch gegenübersteht, einen persönlichen Verlust von Kontrolle und Einnahmen durch Öl- und Goldhandel nach sich ziehen würde.
Darüber hinaus droht unter anderem Dagalo als ehemaligem Kommandeur der »Schnellen Unterstützungskräfte« eine Anklage wegen Genozid und Kriegsverbrechen in Darfur. Die Gründe, einen demokratischen Wechsel zu unterbinden, sind für das Militär somit schon lange gegeben. Was fehlte, waren Gelegenheit sowie Rechtfertigung für einen Putsch.
Die Spannungen in den Reihen der Übergangsregierung sowie zunehmende Proteste boten dem Militär beides. Und der vereitelte Putschversuch von Baschir-Loyalisten im September bestätigte dem Militär die Notwendigkeit von harten Maßnahmen zur Absicherung.
Hager Ali ist Research Fellow am GIGA Institute for Middle East Studies.