Abir Moussi verwaltet das Erbe der Partei Ben Alis und hält wenig von der tunesischen Demokratie – könnte aber deren erste Präsidentin werden.
Man muss nicht selbst alt sein, um von der guten alten Zeit zu schwärmen. Abir Moussi war gerade einmal zwölf Jahre alt, als die Ära des Gründervaters der tunesischen Republik, Habib Bourguiba, 1987 endete. Und doch vergeht kein Tag, an dem die Partei- und Fraktionsvorsitzende der »Parti Destourien Libre« (PDL) nicht mit bedeutungsschwerem Blick sein Porträt in die Kameras hält, keine Rede, in der sie nicht zum Ausdruck bringt, wie prägend für sie und das Land der Zaim gewesen sei.
Bourguiba und sein Nachfolger, Langzeitdespot Zine El-Abidine Ben Ali, repräsentieren für Abir Moussi ein Tunesien der Stabilität, in dem Ordnung, Disziplin und Verlässlichkeit herrschten. Und laut Meinungsumfragen ist sie damit nicht allein. Immer mehr Tunesierinnen und Tunesier teilen ihren verklärten Blick auf die Vergangenheit. Abir Moussi ist zur Symbolfigur der Diktaturnostalgie geworden und hat berechtigte Hoffnungen, eines Tages zur Präsidentin Tunesiens gewählt zu werden.
Geboren wurde Abir Moussi in der Kleinstadt Jemmal in der wohlhabenden Küstenregion im Osten des Landes, dem Kernland des republikanischen Bourguibismus. Als Tochter eines politisch engagierten Sicherheitsbeamten wuchs sie auf im Milieu jenes konservativen Modernismus, der bis heute weite Teile des bürgerlichen Tunesiens prägt.
Früh verinnerlichte sie die Prinzipien des von Bourguiba geprägten »destourianischen« Tunesiens und lernte, mit dessen politischen und gesellschaftlichen Widersprüchen umzugehen: aufgeklärt, aber unterdrückt; emanzipiert, aber unfrei; kritisch im Denken, aber folgsam im Handeln. Frauen, die sich im Namen der Verteidigung der Werte der Republik für den Kampf gegen den als Dauerbedrohung heraufbeschworenen Islamismus einsetzten, hatten im Tunesien Ben Alis erstaunliche Entfaltungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Für Abir Moussi war früh klar, dass dieser Kampf ihre Mission werden sollte.
Der Weg in die Politik war für die begabte Juristin folgerichtig. Auf die Tätigkeiten als stellvertretende Bürgermeisterin von Ariana, der Nachbargemeinde der Hauptstadt Tunis, und als Vorsitzende des Ausschusses für kommunale Rechtsangelegenheiten folgte ein immer stärkeres Engagement in der Ben-Ali-Partei »Rassemblement Constitutionnel Démocratique« (RCD). Moussi suchte die Nähe des von ihr bis heute verehrten Ben Ali, fand sein Ohr und wurde im Jahr der Revolution zur stellvertretenden Generalsekretärin ernannt.
Als Zuständige für Frauenangelegenheiten prägte sie wesentlich das Bild des weiblichen Engagements im RCD. Die plakativ zur Schau getragene Freiheit in den engen Grenzen der Diktatur gefiel sowohl Ben Ali als auch über viele Jahre den verbündeten Europäern.
Wann immer im Parlament Stühle und Fäuste fliegen, ist Abir Moussis Partei mittendrin
Der Sturz des Regimes Ben Ali 2011 kam für Moussi ebenso unerwartet wie für die meisten Beobachter. Sie musste erleben, wie stark das Regime in den Augen der Menschen delegitimiert war, wie sich nach und nach immer mehr gesellschaftliche und politische Akteure von ihr abwendeten. Und dann durften auf einmal die Islamisten in Form der unter Ben Ali verbotenen Muslimbruderpartei Ennahdha mitspielen und gewannen gar die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung.
Innerhalb kürzester Zeit brachen für Abir Moussi sämtliche Gewissheiten weg, die sie bislang durch ihr politisches Leben geführt hatten. Mit Händen und Füßen versuchte sie zu retten, was nicht mehr zu retten war, und übernahm 2011 gar die juristische Vertretung des RCD vor jenem Gericht, das schließlich dessen Auflösung anordnete.
Nach einer kurzen Phase politischer Orientierungs- und Bedeutungslosigkeit blickt Abir Moussi heute, mittlerweile 46 Jahre alt, mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein und voller Abscheu auf das turbulente Treiben der politischen Institutionen der jungen tunesischen Demokratie, zu deren Chaos sie indes kräftig beiträgt. 2019 gelang ihr ein politischer Achtungserfolg, als die neu gegründete und von ihr angeführte PDL mit immerhin 15 Abgeordneten ins tunesische Parlament einziehen konnte.
Abir Moussi folgt seither in der parlamentarischen Arbeit dem Vorbild europäischer Rechtspopulisten. Wie keine andere politische Kraft macht sie das scheinbar ineffiziente und wehrlose parlamentarische System lächerlich, gibt es dem medialen Spott preis – um anschließend zu konstatieren, dass es all das unter Bourguiba und Ben Ali nie gegeben hätte.
Mit Chuzpe führt Abir Moussi den politischen Parteien ihre Dysfunktionalitäten vor Augen und sie am Nasenring durch die politische Manege. Ihre Fraktion treibt das Parlament vor sich her und sabotiert dessen Arbeit. Zwischenrufe und Anfeindungen sind an der Tagesordnung. Ruft der Parlamentspräsident und Ennahdha-Vorsitzende Rached Ghannouchi sie zur Ordnung, bezeichnet Moussi ihn schon mal als Anführer einer Bande Krimineller. Wann immer im Parlament Stühle und Fäuste fliegen, ist die PDL mittendrin. Verbale und physische Gewalt gehören zum Repertoire, immer in erster Reihe: die unerschrockene Abir Moussi, meist als Täterin und Opfer zugleich.
Denn ebenso wenig wie sie selbst lassen ihre Gegner Gelegenheiten für Beleidigungen und Demütigungen aus, die häufig sexistisch und chauvinistisch ausfallen. Auf Facebook machte ein Video die Runde, auf dem Abir Moussi und der Vorsitzende der islamistischen Koalition Al-Karama einander wie Tiger umschleichen, während sich beide gegenseitig beschimpfen und Gewalt androhen.
Dabei steht die ständige Inszenierung der Gegnerschaft zu den islamisch-konservativen Kräften inhaltlich auf dünnem Fundament. In ihren politischen Forderungen unterscheiden sich beide erstaunlich wenig. Abir Moussi ist gegen die Gleichstellung der Frau im Erbrecht, befürwortet die Kriminalisierung der Homosexualität und will Marktprivilegien nicht antasten.
Hier geht sie konform mit ihren Erzfeinden. Sie weiß genau: Möchte sie in höchste Ämter gelangen, benötigt sie neben den Stimmen der Ennahdha-Gegner und der von Verlustängsten geplagten Diktatur-Nostalgiker auch jene der konservativen Mehrheitsgesellschaft. Gerade wegen dieser inhaltlichen Nähe kultiviert Abir Moussi den persönlichen Konflikt mit der Ennahdha – der Anlaufstelle für alle in der Region, die von einer Zukunft ohne Muslimbrüder träumen.
Und ihr Diskurs verfängt im von wirtschaftlichen und politischen Dauerkrisen geprägten Tunesien. In Umfragen liegt lediglich der eigenwillige Staatspräsident Kais Saied vor ihr. Sie polarisiert die Gesellschaft und mobilisiert die Massen. Im März kamen trotz Corona-Beschränkungen Zehntausende Sympathisanten zu PDL-Kundgebungen in den größten Städten Tunesiens zusammen. Um die Posterfrau des Anti-Islamismus entsteht zunehmend ein Personenkult.
Doch erste Risse zeigen sich zwischen ihr und der PDL, in der viele Männer unglücklich darüber sind, dass neben der alles überstrahlenden Abir Moussi für niemand anderen Platz zu sein scheint. Die Parteistrategen bezweifeln zudem, dass auf demokratischem Wege eine Frau in Tunesien tatsächlich zur Präsidentin gewählt würde. Mit weiteren Turbulenzen ist zu rechnen. Das hat Abir Moussi aber noch nie gestört.