Katia Schnellecke leitet das Regionalprojekt »Politischer Feminismus« der Friedrich-Ebert-Stiftung in Beirut und befürchtet: Die Corona-Pandemie hat das Potenzial, viele frauenrechtlichen Errungenschaften zu zerstören. Hoffnung hat sie dennoch.
zenith: Frau Schnellecke, betrifft die Corona-Krise Männer und Frauen in der Region unterschiedlich?
Schnellecke: Grundsätzlich ja, aber von Land zu Land sind die Probleme sehr unterschiedlich und natürlich bilden Frauen auch keinen homogenen Block. Je nach Herkunft und sozialem Stand in der Gesellschaft sind sie dann innerhalb dieser Gruppe auch unterschiedlich stark betroffen.
Und welche allgemeineren Trends haben Sie beobachtet?
Die gab es natürlich, denn im Zuge der Pandemie wurden in den einzelnen Ländern ja vergleichbare Maßnahmen ergriffen – etwa umfangreiche Ausgangssperren. Für viele Frauen hat das eine starke Isolation bedeutet: gefangen in den eigenen vier Wänden. Doch auch davon waren nicht alle Frauen gleichermaßen betroffen. Wer Arbeit hat, konnte in dieser Zeit vielleicht im Home-Office weiterhin Geld verdienen. Da sprechen wir also von gewissen Privilegien. Doch oft wurde von ihnen erwartet, sich in dieser Zeit gleichzeitig um Kinder und Haushalt zu kümmern. Die Pandemie hat diese Erwartungen verschärft. Denn strenge Hygienemaßnahmen bedeutet ja auch, dass noch mehr geputzt werden muss – so entsteht eine massive Doppelbelastung für Frauen.
Medienberichte zu häuslicher Gewalt belegen, dass die Quarantänemaßnahmen ohnehin für viele Frauen eine große Belastung waren.
Absolut. Ein Anstieg der Fälle häuslicher Gewalt haben wir weltweit beobachtet – ein massives Problem. Insbesondere im Nahen Osten hat das eine schockierende Entwicklung genommen. Libanesische NGOs haben allein für den Monat März, also ganz zu Beginn der Pandemie, über eine Verdoppelung der gemeldeten Fälle häuslicher Gewalt berichtet. In der Quarantäne haben Frauen und Kinder kaum eine Chance zu entkommen, um Gewalt und Misshandlung hinter sich zu lassen. Das ist eine ernste Bedrohung für das Recht von Frauen auf körperliche und mentale Unversehrtheit.
Die Solidarität zwischen Frauen in der Krise ist erstaunlich
Eine extrem belastende Situation.
Und das ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Wie im Rest der Welt wird Pflegearbeit überwiegend von Frauen ausgeführt – ob nun bezahlt wie in Krankenhäusern oder ohne Verdienst im familiären Kontext. Im Libanon sind in diesem Sektor 80 Prozent aller Arbeiter*innen weiblich. In Ägypten ist sogar nur eine von zehn Pflegekräften ein Mann. In einer Gesundheitskrise wie der aktuellen Pandemie bedeutet das: Frauen leiden unter einer Mehrfachbelastung. Hinzu kommt, dass die Länder des Nahen Ostens durch die Bank denkbar schlecht auf die Krise vorbereitet waren. So steigt für Pflegekräfte nicht nur das Infektionsrisiko mit COVID-19, sondern auch die mentale Belastung. Eine Studie zu Ebola vor einigen Jahren hat gezeigt, dass Krankenpfleger*innen an der Front ein deutlich höheres Risiko hatten, posttraumatische Belastungsstörungen zu entwickeln.
Sie sagten, die Gesundheitssysteme seien nicht vorbereitet gewesen. Welche Folgen hatte das speziell für Frauen?
Wenn die Gesundheitssysteme überlastet und die Krankenhäuser mit Covid-19-Patienten überfüllt sind, geht das zu Lasten anderer Bereiche. Für Frauen bedeutet das etwa eine starke Verschlechterung der Versorgung bei der reproduktiven Gesundheit. Die ägyptische Regierung hat deshalb Frauen dazu aufgerufen, nicht schwanger zu werden. Schwierig nur, wenn es von vornherein kaum Zugang zu Verhütungsmitteln gibt. Die Regierung empfiehlt darüber hinaus die Anwendung der Mittel nur »temporär«.
Wer kann in dieser Situation helfen?
Die Solidarität zwischen Frauen in der Krise ist wirklich erstaunlich. Das hat auch damit zu tun, dass es kaum spezifische Unterstützung von staatlichen Institutionen gibt. Gerade zu den Themen häuslicher und sexualisierter Gewalt gibt es viele Initiativen, die sich um die Überlebenden kümmern. Wichtig sind etwa die vielen von Freiwilligen betriebenen Hotlines, die juristische Beratung und psychologische Unterstützung leisten.
Nennen Sie uns ein paar Beispiele.
Da ist etwa eine Gruppe von Frauen in Tunesien, die sich freiwillig zusammengeschlossen haben, um obdachlose Sexarbeiter*innen zu unterstützen, indem sie Hygieneprodukte und Medikamente für sie besorgt haben. Gleichzeitig haben diese Frauen ein Angebot für Angehörige der tunesischen LGBTIQ-Community geschaffen, um sie vor häuslicher Gewalt zu schützen. Das sind alle Gruppen mit sehr unterschiedlichen Lebensrealitäten, auf deren Probleme unterschiedlich einzugehen ist.
Was noch?
Es gibt wirklich noch unglaublich viele und sehr engagierte Feministinnen im gesamten Nahen Osten. Ein tolles Beispiel liefert etwa Jordanien. Als der Lockdown langsam gelockert wurden, öffneten zwar Firmen, nicht jedoch Kindergärten und Schulen. Natürlich blieb die Erziehungsarbeit an den Frauen hängen, die auch deshalb ein viel höheres Risiko hatten, ihren Job zu verlieren. Durch den Aktivismus der Jordanierinnen war die Regierung schließlich bereit, auch Kindergärten zu öffnen, so dass werktätige Frauen ihrer Arbeit nachgehen bewahren konnten. Das ist nur ein Beispiel von vielen, die aus der Not geboren sind. Nochmal: Das Problem ist das eklatante Fehlen staatlicher Unterstützung.
Was ist ihr Eindruck: Mangelt es am politischen Willen oder am finanziellen Vermögen?
Die Regierungen sind ja nicht blind, teilweise gab es auch ein paar Anstrengungen. In Jordanien etwa gab es im Zuge der Schulschließungen Mitte März von einigen Institutionen wie dem Finanzministerium zusätzlichen Urlaub für die Kinderbetreuung – jedoch nur für Frauen. Das heißt aber auch, dass erneut explizit Frauen in den häuslichen Raum gedrängt werden. Diese Politik stärkt traditionelle Rollen der Frau als Mutter und des Mannes als Hauptverdiener und Familienoberhaupt.
Corona hat das Potenzial, die frauenrechtlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zu zerstören
Welche sinnvollen Maßnahmen könnte der Staat denn ergreifen?
Darauf gibt eine einfache und weltweit gültige Antwort: Regierungen müssen geschlechtergerechte Antworten auf die Pandemie finden. Sie müssen Lösungsangebote für die gesamte Bevölkerung erarbeiten und sich nicht nur um den männlichen Teil kümmern. Dabei ist es ein weltweiter Negativtrend, dass Frauen nach wie vor von Führungspositionen ausgeschlossen sind. Das Problem ist: in den Gremien sitzen aktuell mehrheitlich Männer. Die werden tendenziell vor allem die Relevanz der Probleme für Männer sehen. Eine ganzheitliche, also feministische Lösung werden die kaum finden. So werden patriarchale Strukturen konserviert und reproduziert. Dabei bietet die Pandemie die Chance für einen Strukturwandel, weg von der patriarchalen Gesellschaft.
Sind diese Missstände auch ein Auslöser der jüngsten, auch feministischen Proteste, die wir in der Region beobachten?
Dazu fällt mir ein wunderbares Zitat der libanesischen Aktivistin Lina Abou Habib ein: Die Krise zeigt, dass feministische Organisationen nicht nur alive and kicking – also gesund und munter – sind, sondern, dass sie auch sehr kreativ und resilient sind; und schlussendlich Leben retten.
Wie beeinflusst denn die Corona-Krise die Frauenrechtsbewegung?
Die Krise hat die gesellschaftlichen Missstände insbesondere im Nahen Osten erneut aufgezeigt: etwa beim Thema Pflegearbeit, das eine nie gekannte Aufmerksamkeit bekommen hat. Ähnliches gilt für häusliche Gewalt, ein oft totgeschwiegenes Tabuthema. Und dann natürlich das Problem mit dem Kafala-System, das Arbeits-Migrantinnen quasi in eine Art »Leibeigenschaft« drängt, und ihnen keinerlei Rechte und Schutz gewährt.
Eine Aufmerksamkeit, die sich als positiver Effekt der Pandemie bezeichnen ließe.
So würde ich das nicht sagen. Über die negativen Folgen der Krise haben wir ja bereits gesprochen. Hinzu kommt, dass die Gesundheitskrise in der Region mit einer Wirtschaftskrise einhergeht. Und in der Vergangenheit konnten wir beobachten, dass unter diesen Umständen viele soziale Themen unter den Tisch fallen. Corona hat das Potenzial, die frauenrechtlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zu zerstören. Das hat Auswirkungen auf die Entwicklung der gesamte Region und für mehrere Generationen.
Was bedeutet das für die aktuelle Frauenrechtsbewegung?
Ein sehr wichtiger Punkt ist das Engagement junger Feministinnen. Sie haben es geschafft, kreativ und innovativ über digitale Medien Aufmerksamkeit zu wecken. Sie haben viel mehr Frauen als früher erreicht, nicht mehr nur national, sondern auch regional. Es entsteht eine Vernetzung, es gibt ein Momentum. Diese Effekte sind auch der Digitalisierung geschuldet. Aber: Nur die Hälfte der Frauen in der Region hat Zugang zu digitalen Medien. Wir müssen uns also bewusst sein, dass es eine ganz bestimmte Schicht ist, die sich da gerade engagiert – nicht die breite Masse.
Dennoch, das von ihnen beschriebene Momentum mag hoffnungsvoll stimmen.
Wir haben gelernt, dass Frauen genau dann am stärksten sind, wenn sie sich zusammentun, eine kritische Masse erreichen und Solidarität untereinander zeigen. So können sie ihren Forderungen viel mehr Gewicht verleihen. Es ist aber klar, dass diese Solidarität allein weder Kinder ernährt, noch Bildung bringt. Da sind die Regierungen gefragt.