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Filmstart von »Der Mann, der seine Haut verkaufte«

Sein Rücken für ein besseres Leben

Feature
Filmstart von »Der Mann, der seine Haut verkaufte«
eksystent Filmverleih

Ein Künstler möchte dem Geflüchteten Sam Ali den Rücken tätowieren, im Gegenzug darf er nach Europa einreisen. Die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania zeichnet in ihrem Film »Der Mann, der seine Haut verkaufte« das Bild einer verstörenden Welt.

Es sind nur ein paar Worte, die dem Syrer Sam Ali aus Raqqa zum Verhängnis werden. In einem vollen Zug macht er seiner Freundin einen Antrag. »Meine Freunde, es ist Revolution. Wir wollen Freiheit. Also lasst uns frei sein«, rutscht es ihm über die Lippen. Es ist 2011, der Arabische Frühling hat auch Syrien erreicht. Die Stimmung ist euphorisch. Die anderen Passagiere klatschen. Am nächsten Tag steht die Polizei vor Sams Tür. Die Schergen des Assad-Regimes suchen ihn. Ihm bleibt nur die Flucht.

 

Im Film muss sich Sam in den Libanon schmuggeln lassen. Im realen Leben flohen fast 1,5 Millionen Syrer in den Libanon, als die Proteste des Arabischen Frühlings in einen Krieg umschlugen. Im Libanon sind syrische Flüchtlinge Bürger zweiter Klasse: Arbeitsgenehmigungen sind exorbitant teuer, Flüchtlinge dürfen keine Unternehmen eröffnen. Viele arbeiten schwarz, um der Armut zu entfliehen.

 

In »Der Mann, der seine Haut verkaufte« erhält Sam ein seltsames Angebot, um dem Libanon zu entkommen: Der Künstler Jeffrey Godefroi möchte ein Schengen-Visum auf Sams Rücken tätowieren. Godefroi ist Europäer, »auf der richtigen Seite der Welt geboren«, wie Sam anmerkt. Im Gegenzug für das Visum auf seinem Rücken bekäme Sam aber auch ein echtes Visum für Europa. Er willigt ein. In Europa angekommen, entdeckt Sam, aus was ihm gemacht wurde. Ein reines Objekt. Er wird in Klarsichtfolie verpackt, in Museen zur Schau gestellt und schlussendlich wegauktioniert.

 

Sofort ist ein Museumsmitarbeiter zur Stelle. Sam soll zurück auf seinen Platz als Kunstwerk zurückgehen. Er soll still sein

 

»Der Mann, der seine Haut verkaufte« erzählt die Geschichte der Entmenschlichung eines Flüchtlings. Für Sams Geschichte interessiert sich in Europa niemand, nur seine Rolle als lebendiges Kunstwerk ist wichtig. Regisseurin Kaouther Ben Hania zieht Parallelen, wie das heutige Europa mit Flüchtlingen umgeht.

 

Um nach Europa zu gelangen, haben andere Flüchtlinge weitaus mehr auf sich genommen als ein Rückentattoo. 6,6 Millionen Menschen sind bislang aus Syrien geflohen, die meisten in die Nachbarländer wie Jordanien oder den Libanon. Die Reise nach Europa ist gefährlich: Die UN-Flüchtlingshilfe schätzt die Zahl der Todesopfer der Mittelmeerroute im Jahr 2021 auf 1.589 Menschen. Die EU schottet sich ab. In deren Auftrag fangen Libyen, Tunesien und seit 2016 auch die Türkei Flüchtlinge ab und hindern sie daran, nach Europa zu kommen. In Libyen werden Flüchtlinge von der Weiterreise abgehalten, in Lager gesperrt und zu Zwangsarbeit missbraucht. Kein Wunder, dass »Der Mann, der seine Haut verkaufte« hauptsächlich in Brüssel spielt, dem Sitz der Europäischen Kommission.

 

Schauplatz Museum. Sam Ali sitzt dem Rücken zum Publikum. Kopfhörer in den Ohren. Oberkörperfrei, damit das Tattoo sichtbar ist. Ein Kind fragt, ob alle Flüchtlinge so ein Tattoo haben. Sam dreht sich um, möchte mit dem Kind reden. Sofort ist ein Museumsmitarbeiter zur Stelle. Sam soll zurück auf seinen Platz als Kunstwerk zurückgehen. Er soll still sein.

 

Politiker reden pausenlos über Flüchtlinge. Selten aber mit ihnen. Die Türkei und Belarus setzen Flüchtlinge als Druckmittel gegen andere Staaten und die Europäische Union ein. Ob medial oder bei Parteitagsreden: selten wird der Flüchtling als Individuum gesehen. Auch Sam Ali droht seine Menschlichkeit zu verlieren.

 

»Wir wissen, dass man als Flüchtling nicht willkommen ist. Da ist man eine persona non grata«

 

Der Film basiert auf einer wahren Geschichte: Der belgische Künstler Wim Delvoye stach 2006 ein Tattoo auf den Rücken von Tim Steiner. Tim ist kein Flüchtling, er kommt aus der Schweiz, aber der Wunsch zur Provokation war auch außerhalb des Filmes ausschlaggebend für die Erschaffung eines »lebendigen Kunstwerkes«. Für mehrere tausend Dollar wurde das Kunstwerk Tim schließlich an einen Sammler weiterverkauft. Sollte Tim sterben, hat der Sammler noch immer das Recht auf das Kunstwerk auf seinem Rücken. Er dürfe die Haut mit dem Tattoo abziehen. Kritiker warfen Wim Delvoye Missbrauch vor. Im Film taucht der Künstler als Cameo-Gast auf.

 

Regisseurin Kaouther Ben Hania ist ein Kind des Arabischen Frühlings. Die Tunesierin gibt in ihren Filmen sozialen und politischen Themen viel Platz. In ihrem vorigen Werk »Beauty and the Dogs« (2017) hatte sie die Geschichte einer Frau erzählt, die sich nach einer Vergewaltigung durch die tunesische Bürokratie kämpfen muss. Kaouther Ben Hania bewegt sich mit »Der Mann, der seine Haut verkaufte« weg von ihrer Heimat Tunesien, Handlungsort ihrer letzten Filme. Und erforscht sowohl den Elitismus der europäischen Künstlerwelt, den sie als ehemalige Pariser Filmstudentin gut kennt. Als auch das Schicksal von Sam Ali aus Syrien.

 

»In den Medien präsentieren wir Flüchtlinge immer als Statistiken und nicht als menschliche Wesen«, sagt sie. Für sie als gut ausgebildete Tunesierin sei es schon schwer gewesen, ein Schengen-Visum zu bekommen. »Wir wissen, dass man als Flüchtling nicht willkommen ist. Da ist man eine persona non grata«, fügt sie hinzu. Das Medium Film sei eine Möglichkeit, dem Zuschauer zu zeigen, wie es sich anfühlt, ein Flüchtling zu sein. »Der Mann, der seine Haut verkaufte« war ein Kritiker-Erfolg für die Jungregisseurin. Bei den Academy Awards 2021 gehörte er zu den Nominierten in der Kategorie »Bester Internationaler Film«. »Alle waren so fröhlich und stolz. In Tunesien machen wir nicht so viele Filme, es war wirklich etwas Besonderes«, sagt Ben Hania.

 

Sam Alis Geschichte ist ein satirisches Drama, das sich aber nicht im Zynismus verliert. Getragen von starken Bildern, führt der Film seine Zuschauer durch eine überraschend untypische Geschichte. Einzig das Ende wirkt fast konventionell. »Der Mann, der seine Haut verkaufte« vermittelt einen Eindruck davon, welche Opfer Flüchtlinge auf der Suche nach Sicherheit aufbringen müssen.


»Der Mann, der seine Haut verkaufte« startet am 24. Februar 2022 in den deutschen Kinos.

Von: 
Raphael Bossniak

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